Atomkraft in Frankreich: Flucht nach vorn
Präsident Emmanuel Macron kündigt die Entwicklung von SMR-„Kleinreaktoren“ an – auch für den Export. Das hat auch mit der Wahl 2022 zu tun.
Sehr treffend, denn es handelt sich um eine Flucht nach vorn der französischen Atomindustrie, die spätestens seit den Unfällen von Tschernobyl und Fukushima sowie dem absehbaren Debakel mit dem EPR, der letzten Reaktorgeneration, total in die Defensive gedrängt wurde.
Eigentlich hatte man auch in Frankreich gedacht, der Ausstieg werde jetzt eingeleitet. Macron selber hatte die Vorgabe seines Vorgängers, den Anteil der mit Kernenergie produzierten Elektrizität von 75 auf 50 Prozent zu reduzieren, als mittelfristiges Ziel in etwa übernommen.
Stattdessen sieht nicht nur der heutige Staatschef zur Einhaltung der Klimaziele und als Antwort auf steigende Erdölpreise in den AKWs plötzlich wieder eine „Chance“ und eine Energie mit Zukunft.
Zweifellos ein Wahlkampfthema
Das sehen auch in der Bevölkerung viele so. Der Anteil der Leute, die für die Energieproduktion mit Reaktoren ist, ist laut Odoxa-Umfrage für Le Parisien von 47 Prozent im Jahr 2018 auf 59 Prozent gestiegen. Das ist auch Macron, der im April kommenden Jahres wiedergewählt werden möchte, nicht entgangen. Die AKW-Frage, die in Frankreich auch die politische Linke spaltet, wird zweifellos ein Wahlkampfthema sein.
Die Trumpfkarte, die Macron dabei ausspielen möchte, ist die SMR-Technologie (Small Modular Reactor). Diese ist für die französische Rüstungsindustrie dank der Atom-Unterseeboote kein Neuland. Aus diesem Grund sind unter der Leitung von EDF (Electricité de France) und dem staatlichen Atomenergiekommissariat CEA mit der Naval Group und TechnicAtome (einer Tochter von Areva) zwei erfahrene Unternehmen mit dem nuklearen Antrieb der U-Boote seit den 70ern beteiligt.
Sie könnten nach Ansicht von Macron in relativ kurzer Zeit in der Lage sein, solche „Minireaktoren“ mit einer Leistung von 170 MW (anstelle der 900 bis 1450 MW der heutigen Monster) zu bauen. Diese möchte Frankreich dann in nicht allzu ferner Zukunft als „atomare Führungsmacht“ in alle Welt exportieren.
Politisch lässt sich dies als Erfolg der nationalen Industrie gut verkaufen, erst recht mit dem arg strapazierten Slogan „Small is beautiful“ in den Medien. Obwohl zweifellos die Kosten eines solchen SMR wesentlich geringer sein werden als beim EPR, dessen verzögerter Bau in Flamanville statt der ursprünglich vorgesehenen 3,3 Milliarden bereits fast 20 Milliarden Euro verschlingt, bedeutet eine kleinere Leistung nicht kleinere Risiken.
Breiter gestreut
Im Gegenteil: Gerade beim Export einer Vielzahl von Klein-AKW wird die Gefahr von nuklearen Unfällen bloß breiter gestreut. Und für die Entsorgung des Atommülls gibt es immer noch keine glaubwürdige Lösung.
Frankreich ist weder das einzige noch das erste Land, das auf SMR setzt. Auch die USA, Russland, Südkorea und China haben in diese Technologie investiert, mit der vor allem veraltete Kohlekraftwerke ersetzt werden sollen.
Die Grünen (Europe Ecologie Les Verts) verweisen darauf, dass es bisher kaum eine Nachfrage für die „Mini-Reaktoren“ gebe und dass Frankreich frühestens 2040 Klein-AKW mit SMR ausrüsten könnte. Bis dahin aber müssten statt in diese mehr als fragwürdige Kerntechnologie in die erneuerbaren Energiequellen investiert und der Ausstieg aus der Abhängigkeit vom Uran fortgesetzt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind