Arztbesuch: Risiken und Nebenverdienste
Mediziner verdienen gut an "individuellen Gesundheitsleistungen", ihr Nutzen aber ist umstritten. Gerade auch in der Früherkennung von Krebs.
BERLIN taz Im Wartezimmer warnt ein Plakat: "Der Grüne Star ist eine der häufigsten Ursachen für Erblinden." Um das Glaukom, wie die Erkrankung auch genannt wird, rechtzeitig behandeln zu können, wird empfohlen, den Augeninnendruck zu messen. Doch die gesetzlichen Krankenkassen zahlen diese Messung nicht. Ihr Nutzen ist nämlich umstritten. Die Vorsorge, sagt die Arzthelferin, koste 16 Euro und werde ab dem 40. Lebensjahr einmal jährlich empfohlen. "Wenn Sie wollen, kann Frau Doktor das gleich heute machen."
Immer häufiger bieten Ärzte ihren Patienten so genannte Individuelle Gesundheitsleistungen (IGeL) an, die diese selbst bezahlen müssen. Jedem vierten der 18 Millionen gesetzlichen Versicherten wurden im vorigen Jahr derlei Diente offeriert, wie eine neue Untersuchung des Wissenschaftlichen Instituts der AOK ermittelt hat.
Die Zusatzleistungen reichen von Glatzenbehandlung und Tests zur Verträglichkeit von Kosmetika über ergänzende Krebsvorsorgen zur Messung der Knochendichte zur Früherkennung von Osteoporose. Besonders gefragt sind der Studie der AOK zufolge Ultraschalluntersuchungen, Messungen des Augeninnendrucks und ergänzende Untersuchungen zur Krebsfrüherkennung bei Frauen. Zusammen macht dies fast die Hälfte der beanspruchten IGeL aus.
"Medizinisch notwendig sind die meisten dieser Leistungen nicht", kritisiert Christoph Kranich, Gesundheitsexperte der Verbraucherzentrale Hamburg. Nur in Ausnahmefällen wie Impfungen bei Fernreisen oder Eignungsuntersuchungen für den Tauchsport hält er die individuellen Gesundheitsleistungen für empfehlenswert. "Manchmal kann der Schaden überwiegen", warnt er, wie etwa bei der ergänzenden Krebsfrüherkennung.
Zur Früherkennung von Gebärmutterhals- und Eierstockkrebs wird eine Ultraschalluntersuchung der Beckenorgane angeboten. Diese sei aber viel zu ungenau und damit wenig aussagekräftig, meint die Verbraucherzentrale. Zahlreiche Krebserkrankungen würden nicht entdeckt, zugleich führten Fehldiagnosen zu weiteren unnötigen und risikoreichen Eingriffen. Etwas vorsichtiger äußert sich Eva Kalbheim von der Deutschen Krebshilfe dazu. Sie möchte nicht gleich von den IGeL abraten, betont aber, dass diese in eine "gute Beratung eingebettet werden" sollten. "Die Patientinnen müssen vorher erfahren, was die Risiken der Untersuchung sind und wie hoch die Wahrscheinlichkeit für eine Erkrankung ist." Doch welche Patientin fragt schon kritisch nach, wenn der Arzt ihres Vertrauens ihr zu einer solchen Untersuchung rät?
Erfunden wurden diese zusätzlichen Leistungen im Haus der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, und zwar in den 90er Jahren, als die Kostensenkung im Gesundheitswesen begann und die Einkommen der Ärzte zu wachsen aufhörten. Die IGeL sollten die Differenz zwischen dem medizinisch Machbaren und den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung schließen, die nur bezahlt, was medizinisch notwendig und wirtschaftlich verträglich ist.
Neu ist jedoch, wie Verbraucherzentralen und die Stiftung Warentest beklagen, dass die Kassenärzte ihren Patienten immer nachdrücklicher die zusätzlichen Leistungen anbieten. Für die Ärzte seien sie eine lukrative Einnahmequelle, sagt Ulrike Steckkönig von Stiftung Warentest. Insgesamt, ergänzt Jürgen Klauber vom Wissenschaftlichen Institut der AOK, werde mit IGeL ein Umsatz von einer Milliarde Euro erzielt. Eine Befragung unter Ärzten ergab, dass jeder zweite davon überzeugt ist, seine Praxis ohne Igel nicht mehr wirtschaftlich betreiben zu können.
Das erklärt auch, warum die Ärzte sich die Patienten, denen sie die IGeL bevorzugt anbieten, aufmerksam auszusuchen scheinen: In den unteren Einkommensgruppen schlugen die Mediziner nur etwa jedem Sechsten eine private Leistung vor, bei Besserverdienenden jedem Dritten.
Im vergangenen Jahr sah selbst die Bundesärztekammer Handlungsbedarf. Der Ärztetag beschloss Empfehlungen, die Medizinern dabei helfen sollen, IGeL "seriös und verantwortungsvoll" anzubieten. Individuelle Gesundheitsleistungen, heißt es darin, seien als Leistungen zu verstehen, die aus ärztlicher Sicht "notwendig oder empfehlenswert, zumindest aber vertretbar" seien und von den Patienten ausdrücklich gewünscht" würden. Individuelle Gesundheitsleistungen dürften "nicht aufgedrängt werden", beschloss der Ärztetag. Doch in "einem zunehmend von Ökonomie geprägten Gesundheitssystem" müsse es Ärzten erlaubt sein, auf "eine Nachfrage zu reagieren" und "ökonomisch zu handeln", um ihre Existenz zu sichern.
Verbraucherschützer Kranich befürchtet, dass durch IGeL langfristig das Vertrauen der Patienten in die Ärzte schwindet. Die Studie der AOK bestätigt ihn: Drei Viertel aller Versicherten, die Erfahrungen mit individuellen Gesundheitsleistungen haben, befürchten eine Verschlechterung des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient durch die Zusatzangebote.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!