Armenien und der Konflikt um Bergkarabach: Keine Feiern am Unabhängigkeitstag
Nach der Eroberung Bergkarabachs herrscht gedrückte Stimmung in Armenien. Einige suchen nach Schuldigen, anderen sorgen sich um Angehörige.
Nach der Kapitulation von Bergkarabach ist das Land in Trauer. Die geplanten festlichen Veranstaltungen wurden abgesagt. Theater und Kinos sind geschlossen. Und während Politikwissenschaftler über die Wiederangliederung Bergkarabachs an Aserbaidschan diskutieren, bringen Demonstranten ihre Trauer über den Verlust von Bergkarabach (armenisch „Arzach“) durch Proteste zum Ausdruck.
Empfohlener externer Inhalt
Es gibt eine neue Realität. Bergkarabach, das die letzten dreißig Jahre eine international nicht anerkannte Republik unter armenischer Führung war, soll jetzt Aserbaidschan angeschlossen werden. Ein schmerzhafter Prozess für die armenische Bevölkerung, denn in dem seit Jahrzehnten bestehenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan wurde bereits viel Blut vergossen. Der größte Teil der Bevölkerung Armeniens trauert schweigend, resigniert.
Gleichzeitig haben sich genug Menschen in der Innenstadt versammelt, um den gesamten Autoverkehr in Jerewan Innenstadt lahmzulegen. Ständig kommt es zu Streitereien zwischen Autofahrern und Demonstranten, bei denen die Polizei eingreifen muss. Doch das ist nicht der einzige Grund für Streit auf den Straßen. Die Demonstrierenden sind sich uneinig: Wem soll man nun die Schuld an der Situation geben?
Unterschiedliche Schuldzuweisungen
Vorm Regierungsgebäude protestieren die Menschen schon seit mehreren Tagen. Sie sagen, der Premierminister Nikol Paschinjan habe die Region Bergkarabach aufgegeben und verraten. Jetzt soll er zurücktreten. Schreie wie „Armenien ohne Nikol“, „Nikol ist ein Verräter“ sind dort zu hören. Immer wieder versuchen die Menschen, das Gebäude zu stürmen. Es kam zu Gewalt gegen die Polizei, die diese mit Blendgranaten beendete. Nach Angabe des Gesundheitsministeriums gab es Verletzte auf beiden Seiten.
Andere Demonstrierende geben Putin die Schuld. „Nikol ist doch auch nur eine Marionette Russlands“, sagt eine Demonstrantin. „Russland hat mehrfach bewiesen, dass ihnen unsere Bündnisvereinbarungen nichts bedeuten.“
Angst um die Sicherheit von Angehörigen
Einer der Demonstranten ist Arthur, der selbst aus Bergkarabach stammt. Seine Familie ist noch dort und kann momentan das Gebiet nicht verlassen. Der 21-Jährige ist mit seiner Schwester zusammen vor einem Jahr nach Jerewan gezogen, um hier ein Ingenieursstudium zu beginnen.
Jetzt demonstriert er dafür, dass die Menschen aus der Region Bergkarabach schneller evakuiert werden, da er um das Leben seiner Familie fürchtet. „Wenn die Regierung Armeniens nicht in der Lage ist, die Sicherheit meiner Eltern und meiner Familie in Bergkarabach zu gewährleisten, obwohl sie die gleichen Pässe haben wie alle anderen armenischen Bürger auch, dann muss diese Regierung weg.“
Alla ist Lehrerin in Jerewan. Auch sie hat Familie in Bergkarabach. Sie fürchtet, dass es zu einer Revolution in Armenien kommt. „Ich vertraue niemandem mehr. Ich verstehe, dass viele Menschen die Regierung stürzen wollen, weil sie einen Schuldigen brauchen. Aber in Jerewan haben jetzt auch viele Angst vor einer Revolution. Ich glaube eine Revolution würde nicht helfen, aber nichts machen kann man ja auch nicht.“
Paschinjan ruft zur Ruhe auf
Premier Nikol Paschinjan wendete sich an diesem Freitag mit beruhigenden Worten an die Bevölkerung: „Wir haben bereits alles für den Fall vorbereitet, dass wir die Menschen schnell evakuieren müssen. Bereits jetzt könnten wir sofort 40.000 Menschen aufnehmen. Weitere Aufnahmemöglichkeiten bereiten wir gerade vor.“
Er machte deutlich, dass es keinen Grund zur Panik gebe, und die Regierung die Situation sehr genau beobachte. Aktuell gebe es keine Anzeichen dafür, dass die armenische Bevölkerung in Bergkarabach sich in Lebensgefahr befinde. Doch die Lage sei dynamisch und können sich jede Minute ändern, so Paschinjan.
Derzeit keine Evakuierungen geplant
„Wir planen nicht, die armenische Bevölkerung aus Bergkarabach herauszuholen. Wir müssen jetzt vielmehr alles dafür tun, dass unsere Bevölkerung dort sicher und ruhig in ihren Häusern weiterleben kann. Gleichzeitig wird aber gegen Armenien gerade ein hybrider Krieg geführt. Wir müssen jede Information gut prüfen und dürfen uns nicht von Emotionen leiten lassen.“ Das gelte besonders für Journalisten, so Paschinjan.
Zwar gibt es große Demonstrationsbewegungen gegen die jetzige Regierung in der Stadt, dennoch unterstützt die Mehrheit der armenischen Bevölkerung Paschinjan. Die Menschen sind kriegsmüde und bringen Verständnis dafür auf, dass der Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan auch durch andere Länder behindert wird.
Aber die Hoffnung bleibt, dass nächstes Jahr am Unabhängigkeitsfeiertag wirklich die Unabhängigkeit gefeiert werden kann.
Hinweis: In der ersten Version stand einmal „Taiwan“ statt „Jerewan“ – das ist natürlich falsch. Wir haben das korrigiert.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!