Archiv der Gruppe „Die Tödliche Doris“: Schätze aus dem Kumpelnest
Die Punk-Art-Gruppe „Die Tödliche Doris“ gehört zum West-Berlin der 80er. Galerist Radek Krolczyk schützt ihr Archiv in Bremen vor Berliner Nostalgie.
Streng genommen ist es ein Lagerraum. Allerdings einer für Werkzeuge und Fragmente künstlerischer Arbeiten. „Die Kunstwerke der Tödlichen Doris“, heißt es in deren Werkverzeichnis, „erscheinen in immaterieller Gestalt“. Das Archiv dieser 1980 von Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen zwischen Westberliner Punk-Untergrund und Kunsthochschule gegründeten legendären Gruppe betreibt seit 2021 Radek Krolczyk, Bremer Galerist – und immer wieder auch mal taz-Autor.
Beim Besuch in Krolczyks Galerie K’ im ehemals wilden, heute weitgehend gentrifizierten Ostertorviertel bekommt man nicht nur eine Ahnung dieser immateriellen, bewusst undefinierbar gehaltenen „freien“ Kunst zwischen Klang, Konzept, und Performance, zwischen Musik, Film und Objektkunst. Man kann auch besagte Werkzeuge und Fragmente wie Kostüme, Instrumente und sogar Malereien begutachten.
Zum Einstieg aber präsentiert Krolczyk, 1978 im polnischen Pyskowice geboren und schon immer interessiert an den politischen Implikationen von Ästhetik, ein schlichtes Holzregal mit 36 Aktenordnern als ein zentrales Werk. Teils thematisch, teils intuitiv geordnet, seitenweise befüllt mit Fotos, Dokumenten, Korrespondenz und Fanpost. Besonderheiten finden sich hier neben Alltäglichkeiten: Testabzüge der berühmten US-amerikanischen Fotografin und LGBT-Aktivistin Nan Goldin und Fotos vom nicht minder berühmten „Festival Genialer Dilletanten“, für das Wolfgang Müller das Manifest verfasst hatte, liegen neben einer Abrechnung über 376 D-Mark fürs Bedrucken einer Single.
„Hallo, du scharfes Luder“, grüßt ein Wolfgang aus Münster 1985 in einem Anschreiben, „deine Anzeige in Sex-Treff 49 war so affengeil formuliert, da musste ich ganz einfach Schwanz, Mikrophon und Rekorder rausholen, um meinen Beitrag zu deinem Dauerorgasmus zu leisten“. Hier liest man, was die Gruppe auch immer ausgemacht hat: die Verbindung von schnödem Alltag, von Trash und Kunst. Im Presseordner sind Besprechungen von Kassetten-Veröffentlichungen aus der Berliner Zitty, der konkret, der Bravo und auch der taz mehr oder weniger ordentlich abgeheftet.
Radek Krolczyk, Galerist
Das Archiv erweist sich als Zeugnis künstlerischen Alltags, in dem man sich auch nostalgisch verlieren kann. Und das man, so Krolczyk, auch selbst als Kunstwerk betrachten kann. „Teile davon waren 1987 auf der documenta 8 in Kassel zu sehen“, erinnert er. Als Teil einer Installation von dort genutzten Büroräumen konnten sich Interessierte Fotokopien von Skizzen, Aufbauplänen und der Korrespondenz mit den Kuratoren der damaligen Ausstellung machen.
Bloß: Warum wird das Archiv dieser zwar fast weltweit präsenten, aber doch sehr im Westberlin der 80er-Jahre verwurzelten Gruppe ausgerechnet in Bremen bewahrt? Die Antwort liegt in der Person von Wolfgang Müller, dessen Arbeiten Radek Krolczyk mehrfach ausgestellt hat. „Wenn man mit Wolfgang Müller zusammenarbeitet, kommt die Tödliche Doris automatisch irgendwann ins Spiel“, erklärt Krolczyk die Übernahme des Archivs der Gruppe. Was er damit anfängt? „Ich passe drauf auf und sorge dafür, dass damit gute Sachen passieren.“
Das Gummimesser des Sid Vicious
Ergeben hatte sie sich allerdings aus ganz profanen Sachzwängen. Als Krolczyk 2020 die 200 Quadratmeter umfassenden Räume im Ostertor zusätzlich zu seiner ursprünglichen Galerie anmietete, schneite fast zeitgleich die Kündigung fürs Haus der Tödlichen Doris in Berlin-Schöneberg rein. Dort, in einer Remise hinter der legendären Szenebar Kumpelnest 3000, hatten bis dato deren Archiv, Atelier und Plattenfirma ihren Sitz. Müller, seit jeher an Uneindeutigkeiten und Dissonanzen in vermeintlich abgeschlossenen Identitätskonzepten interessiert, war bis dahin der einzige aus dem Umfeld der Doris, der sich ums Archiv gekümmert hatte; um die Digitalisierung der Filme, um die Neuauflagen der alten Platten.
Anstatt sich also in Berlin einen neuen, wahrscheinlich exorbitant teuren Ort zu suchen, wanderten die „Werkzeuge und Fragmente“ aus vier Jahrzehnten Gruppengeschichte peu à peu nach Bremen. „Wenn die Werke zum Beispiel in der Berlinischen Galerie wären, wäre das irgendwie auch schon wieder zu naheliegend“, sagt Krolczyk. Dort könnte es einen unpassenden heimatmusealen Charme entwickeln.
So findet sich die Kunst der Doris „an Orten mit anderen Bezügen“, wie der Galerist es nennt, im Sprengel-Museum in der Stadt Hannover etwa, mit ihrer Bedeutung für den Punk der 1980er-Jahre etwa, oder eben in Bremen. Eine Verteilung an mehrere Orte, die auch zum ästhetischen Konzept der Gruppe passt, zu ihrem Spiel mit den Genres, mit dem Kunstbetrieb und ihrer Vorliebe für fluide, offene Zustände und Konzepte.
Krolczyk führt in den hinteren Raum der Galerie. Erstes Artefakt, das er aus einem Karton kramt, ist das Gummimesser, mit dem im grandiosen Super-8-Film „Das Leben des Sid Vicious“ von 1981 der vermeintliche Mord von Sex-Pistols-Bassist Sid Vicious an seiner Freundin Nancy Spungen von Kindern nachgespielt wurde.
Ein berühmtes Frühwerk der Doris ist der Film „Materialien für die Nachkriegszeit“, für den Wolfgang Müller und Nikolaus Utermöhlen unter Sofortbildautomaten in West-Berliner U-Bahnhöfen weggeworfene Passfotos aufgesammelt, restauriert und abgefilmt haben. Motive des Films wurden laut dem Kunsthistoriker Eugen Blume, dem langjährigen Leiter des Berliner Museums Hamburger Bahnhof, später in großen Produktionen wie „Die fabelhafte Welt der Amélie“ zitiert. „Das ist eine Arbeit, die oft zum Ausleihen angefragt wird“, sagt Krolczyk.
Auch aktuelle Projekte gehen aus dem Doris-Archiv hervor. Jüngst hat Krolczyk die Platte „Karlsbad“ von Utermöhlen aus dem Jahr 1989 wieder herausgebracht. „Ich hatte zwar die Masterbänder, aber kannte die Aufnahmen gar nicht“, erzählt er. Ein Versuch, das Vinyl im Internet zu kaufen, scheiterte; dann aber meldete sich zufällig ein Mensch von einem Label aus Belgien, um die Platte neu aufzulegen.
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