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Ein Heiler der gebrochenen Herzen

VERSÖHNUNG Der Journalist Hrant Dink wollte Brücken zwischen Armeniern und Türken bauen. Das gelang ihm erst nach dem Tod

VON ISIL CINMEN (ISTANBUL)

Am 19. Januar 2007 um 15 Uhr trat ein radikaler Wendepunkt in der Wahrnehmung der Armenierfrage in der Türkei ein. Eine Wahrnehmung, die der türkische Staat ein Jahrhundert lang geformt hatte, wandelte sich.

Ich möchte mit diesem Tag beginnen. Es war spät am Morgen, ich schlief immer noch. Da kam meine Freundin zu mir angelaufen und sagte: „Steh auf! Sie haben Hrant Dink getötet!“ Ich konnte nicht aufstehen. Seitdem sind acht Jahre vergangen. Weder konnte Hrant Dink sich wieder von dem Bürgersteig erheben, auf dem er niedergestreckt worden war, noch konnte ich mich von dem Gefühl der großen Ungerechtigkeit lösen, das ich zum ersten Mal damals mit Anfang zwanzig empfand.

Als ich Hrant Dink zum ersten Mal sah, saß er bei uns im Wohnzimmer. Er war gekommen, um ein Interview mit meiner Mutter zu führen. Ich weiß nicht mehr, warum, aber ich war sehr bedrückt. Als er bemerkte, dass ich mich zusammenreißen musste, um nicht zu weinen, fragte er: „Erzähl! Was ist passiert?“

Mit einem Lächeln, dessen Aufrichtigkeit nicht einmal Sie anzweifeln würden, selbst wenn Sie es nur auf einem Foto sähen, sagte er: „Es gibt sicher einen Ausweg. Ich bin der Heiler der gebrochenen Herzen.“

Ich stand kurz vor meinem Universitätsabschluss, als der Mann, von dem ich sicher war, dass er nichts und niemanden im Leben beleidigen würde, wegen Beleidigung des Türkentums verurteilt wurde. Der Staatsanwalt hatte trotz eines gegenteiligen Gutachtens seine Verurteilung gefordert, und das Gericht hatte eine Gefängnisstrafe von sechs Monaten verhängt.

Für jemanden wie ihn bedeutete der Vorwurf des „Rassismus“ die schwerste Anschuldigung überhaupt. In seinem letzten Artikel schrieb er: „Ich hätte alles ertragen können, aber das auszuhalten war mir nicht möglich. Nach meinem Verständnis war jemand, der Menschen, mit denen er zusammenlebte, wegen ethnischer oder religiöser Unterschiede beleidigte, ein Rassist, dem man in keinster Weise verzeihen durfte.“

Eine Woche später war er tot. Der Tag, an dem er getötet wurde, war für die Türkei der Anfang eines Wandels. Am selben Abend marschierten 250.000 Menschen mit Fackeln in der Hand und riefen: „Wir alle sind Armenier, wir alle sind Hrant.“ In einem Land, in dem das Wort „Armenier“ als Schimpfwort benutzt wurde, schrien Hunderttausende „Wir alle sind Armenier!“ Das war der Anfang des Zusammenbruchs der Armenierpolitik des türkischen Staates und das erste Anzeichen für ein Erwachen der Gesellschaft.

Hrant Dink vermied es in seinen Reden, das Wort „Völkermord“ zu benutzen. Nicht weil er Angst hatte, sondern weil er wusste, dass das Beharren auf dem Wort „Völkermord“ das größte Hindernis für einen Dialog mit dem türkischen Volk darstellte. Denn ein durchschnittlicher Türke, der das Wort „Völkermord“ hört, aktiviert sofort seine Schutzmechanismen, und ab dem Zeitpunkt schwindet jegliche Wahrscheinlichkeit für einen echten Dialog.

Hrant Dinks Anliegen war es jedoch, eine kleine Tür zu öffnen, damit die türkische Bevölkerung von dem großen Leid erfuhr, das 1915 geschah, und so ein Herz und ein Gewissen für diese Ereignisse entwickeln konnte. Das Aussprechen des Worts „Völkermord“ sollte die letzte Station auf diesem Wege sein. Solange nicht alle Bevölkerungsgruppen in der Türkei an den Punkt gelangen, wo sie mit dem Herzen trauern und aus ihrem Gewissen heraus um Verzeihung bitten, so lange wird das Wort „Völkermord“ ein kaltes Wort bleiben.

Die Brücke, die Hrant Dink zu Lebzeiten errichten wollte, hat er durch seinen Tod gebaut. Das war nicht einfach. Nach seinem Tod war es geradezu so, als hätten sich die Justiz, die Polizei und die Ministerien zusammengeschlossen und sich gegenseitig das Versprechen abgenommen, ihn auf dem Bürgersteig liegen zu lassen. Sie haben alles getan, um das Licht der 250.000 Demonstranten in den Schatten zu stellen. Sie haben alles getan, um die Kräfte hinter dem Attentäter zu verdecken, um die mörderische Geisteshaltung als normal hinzustellen. Ein skandalöses Urteil jagte das andere.

Der Prozess um die Ermordung von Hrant Dink entwickelte sich zu einem Prozess, bei dem auch über das Justizsystem und das Verständnis für Gerechtigkeit in der Türkei verhandelt wurden. Die Gesellschaft begann, auf den Spuren von Hrant Dink das Tabu um die Armenier zu brechen und über die Vergangenheit zu sprechen.

Von Jahr zu Jahr lauter und mit mehr Stimmen. Von 2010 an begann man in der Türkei die Massen zum Gedenken an den Völkermord an den Armeniern aufzurufen. Das alles ist eine Entwicklung. Früher oder später werden die Anerkennung des Genozids und die Entschuldigung, die vom türkischen Staat erwartet wird, erfolgen. Denn die Wahrheit ist stärker als jede Staatspolitik.

Aber wird die in der Zukunft möglicherweise eintretende Entschuldigung heilsam sein? Werden die durch die Ereignisse von 1915 ausgelösten Traumatisierungen der Armenier durch eine erzwungene Anerkennung des Völkermords seitens des türkischen Staates ein Ende finden?

Nein. Die Anerkennung auf diesem Weg bedeutet die Niederlage eines von zwei Staaten, die gegeneinander angetreten sind. Eine Niederlage, die auf dem politischen Druck anderer Länder der Welt basiert. 1915 verdient mehr als eine unaufrichtige Anerkennung des Genozids, mehr als eine nicht wirklich so gemeinte politische Entschuldigung.

Die Wunden dieses Traumas können nur heilen, wenn eine türkische Gesellschaft entsteht, die die Verantwortung für alles, was 1915 geschehen ist, übernimmt und um Verzeihung bittet. Es gibt viele Wege, die Wahrheit auszudrücken. Jeder, der dies erreichen möchte, sowohl die Armenier als auch die Türken, muss sich bemühen, einen Konsens herzustellen. Das bedeutet den Begriff „Genozid“ mit Inhalt zu füllen, ohne sich auf das Wort „Genozid“ zu versteifen. Mit Filmen, Büchern, Erzählungen und Dialogen. Dies ist die einzige Möglichkeit, sich der Wahrheit zu stellen.

Der Heiler der gebrochenen Herzen ist immer noch am Werk und versucht, die gebrochenen Herzen von vor hundert Jahren zu reparieren. Wenn wir uns ihm alle anschließen, werden die eine Million Toten, die immer noch ohne Seelenfrieden unter der Erde liegen, der Schlüssel für das Verzeihen und die Zukunft sein. Bis dieser Tag kommt, entschuldige ich mich als Mitglied der türkischen Gesellschaft persönlich bei der armenischen Bevölkerung, die das Leid von 1915 in ihren Herzen trägt.

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