Die eine oder die andere Utopie

Ab 2009 wird die Karl-Marx-Straße in Neukölln Sanierungsgebiet. Doch vorher leuchtet das Festival „48 Stunden Neukölln“ noch einmal alle verborgenen Ecken und Winkel des Bezirks aus . Auf eine Bedürfnisanstalt ist man sogar fast ein bisschen stolz

VON JESSICA ZELLER

Noch ist etwas Staub auf dem wuchtigen Eingangsportal der „Alten Post“ auf der Karl-Marx-Straße 97/99. „Wir ziehen um! Biz tasiniyoruz! Ab dem 30. 10. 2003 finden Sie uns in den Neukölln-Arcaden im Erdgeschoss. Vielen Dank für Ihr Verständnis. Ihre Deutsche Post“, informiert ein vergilbtes Schild auf den mittlerweile fast undurchsichtigen Glasscheiben die verirrten Besucher. Seit fünf Jahren ist das denkmalgeschützte Gebäude für die Öffentlichkeit geschlossen gewesen und hat in dieser Zeit des Öfteren den Besitzer gewechselt. Am Freitagabend öffnet das Haus im Rahmen des Kunst- und Kulturfestivals „48 Stunden Neukölln“ erstmals wieder seine Türen für die Ausstellung: „Neukölln Exquisit“.

„Wir sind sehr stolz, die Alte Post erstmals bespielen zu können, nachdem wir es in den vergangenen Jahren immer wieder erfolglos versucht haben“, erzählt Martin Steffens, der gemeinsam mit Ilka Normann in diesem Jahr die Projektleitung der „48 Stunden“ übernommen hat. Dass es diesmal mit der Genehmigung geklappt hat, hängt wohl nicht zuletzt damit zusammen, dass die Karl-Marx-Straße ab Anfang 2009 als städtisches Sanierungsgebiet ausgewiesen ist. Unter dem Motto „Jung, bunt, erfolgreich“ soll eine Aufwertung der Einkaufsmeile gelingen, bei der der Kultur, nicht zuletzt dank der Vorarbeit des Neukölln-Festivals, eine tragende Rolle zugeschrieben wird. Die Alte Post wird deshalb auch in den kommenden Monaten als Ausstellungs- und Veranstaltungsort geöffnet bleiben, vielleicht sogar noch länger.

Doch zunächst präsentieren vom 20. bis 22. Juni zwei Tage und Nächte lang über 1.000 Kunst- und Kulturschaffende an 171 verschiedenen Orten in den Kiezen zwischen Kanal und S-Bahn-Ring unter dem diesjährigen Schwerpunktthema „Von Utopie und Glücksmomenten“ ihre Arbeiten. Nicht nur Anwohner, sondern vor allem Besucher aus anderen Stadtteilen haben bei „48 Stunden Neukölln“ die Gelegenheit, den Bezirk von seiner besten Seite kennenzulernen. Es gibt Ausstellungen, Performances, Stadtführungen, Musik, Theater, Lesungen und Stände mit Getränken.

Das Festival wird zwar aus verschiedenen Töpfen gefördert und hat einige Sponsoren, basiert jedoch maßgeblich auf dem Engagement der Organisatoren vom Kulturnetzwerk Neukölln e. V. und der Aktivität der Teilnehmer. Der Bezirk, oder zumindest ein Teil von ihm, beherbergt zwar nicht die geldversprechende Crème de la Crème des Kunstmarktes, ist aber Wohnort vieler der Künstler, die wie 90 Prozent der Künstler in Deutschland nicht von der Kunst allein leben können, sondern angewiesen sind auf öffentliche Gelder, Projektmittel und Nebenjobs.

Wie originell dabei auch die Ausstellungsorte sind, zeigt sich beispielsweise an Neuköllns „schönster Bedürfnisanstalt“, die sich etwas versteckt, im Herzen des Bezirks befindet. An der Wildenbruchbrücke geht es die Treppe runter ans Ufer des Neuköllner Schifffahrtskanals. Doch wer glaubt, sich hier seiner unmittelbaren Bedürfnisse entledigen zu können, hat Pech gehabt. Schon seit 1995 ist die öffentliche Toilettenanlage geschlossen, eine Folge der Modernisierung der gesamten Stadt mit den vollautomatischen mobilen „City-Toiletten“. Heute befindet sich in den drei kleinen Räumen, wo einst Klofrau, Spaziergänger und Obdachloser sich begegneten, die Galerie „Toiletten 27“. „Wir sind das Gegenteil vom White Cube“, erklärt Mitinitiatorin Susann Kramer fast ein bisschen stolz. Die Wände, an denen der hellgelbe Putz abbröckelt, dürften „niemals überstrichen werden. Die Künstler, die wir einladen, sollen sich von der Gewordenheit des Ortes inspirieren lassen und darauf Bezug nehmen“, so Kramer.

Hier zeigt unter anderem die Französin Caroline Armand eine Installation, die aus Verpackungskartons besteht – gefunden auf den Straßen Neuköllns. Der Besucher geht durch Papptunnel, sieht liebevolle architektonische Modelle und fühlt sich wie in einem recycelbaren Legoland. „Ich habe versucht, eine Utopie für diesen Bezirk zu schaffen“, so die Künstlerin.

Dass die Kartons dabei aus Fabriken der ganzen Welt kommen, ist für Armand auch symbolisch zu verstehen. Immerhin ist Neukölln nicht nur einer der ärmsten, sondern mit seinen 300.000 Bewohnern aus mehr als 160 Nationen auch der internationalste Bezirk Berlins. Dass die daraus resultierende kulturelle Vielfalt von den Machern des Festivals, das zum zehnten Mal stattfindet, stets als Stärke betont und nicht als Parallelgesellschaft problematisiert wurde, ist sicherlich einer der Faktoren dafür, dass „48 Stunden Neukölln“ eine lokale Erfolgsgeschichte geworden ist.

„48 Stunden Neukölln“, 20. bis 22. Juni an 171 verschiedenen Orten. Mehr Infos unter: www.48-stunden-neukoelln.de