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Die Politik schläft weiter

2006 soll zum Klimaschutzjahr werden, verkündet Kanzlerin Merkel (CDU). Am Ende ist es wieder ein verlorenes Jahr. Nicht ein Gesetz wird verabschiedet. Über das Versagen der Politik

Der Bundestagsbeschluss ist tatsächlich historisch. Am 27. September 1991 votieren die deutschen Volksvertreter einstimmig für das erste Klimaziel in der Geschichte der Bundesrepublik. Bis 2005, so der Beschluss, soll Deutschland seinen Kohlendioxidausstoß um 25 bis 30 Prozent senken – bezogen auf das Emissionsvolumen des Jahres 1987.

Dank des Zusammenbruchs der ineffizienten DDR-Wirtschaft geht die Produktion des Klimagiftes auch tatsächlich rasant zurück. 1999 werden schon 14,8 Prozent weniger Kohlendioxid emittiert als 1990. Die rot-grüne Bundesregierung macht sich gerade auf, die Gesellschaft ökologisch zu erneuern und den Klimaschutz zu intensivieren. Erneuerbare-Energien-Gesetz, Ökosteuer, Atomausstieg, eine Initiative zur Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung – das Klimaziel 2005 scheint erreichbar. Mitte 2006 kommt die Ernüchterung. Die beim Umweltbundesamt erstellten „Nationalen Trendtabellen für die deutsche Berichterstattung atmosphärischer Emissionen“ weisen für 2005 876.810.800 Tonnen Kohlendioxid aus, die aus deutschen Brennkammern stammen. Das sind 0,2 Prozent weniger als 1999. Statt minus 25 Prozent steht nach der Ziellinie nur ein Minus von 15 Prozent. Ausgerechnet die rot-grüne Regierung hat glatt versagt.

Aber das soll nun ganz anders werden: Mit Angela Merkel (CDU) lenkt erstmals eine Politikerin Deutschlands Geschicke, „die das Thema verstanden hat“. Jedenfalls behauptet Merkels Umfeld das. 2006, so der Plan, soll zum Klimajahr überhaupt werden.

Und tatsächlich redet die frühere Umweltministerin Merkel ständig über Klimaschutz. Beim Antrittsbesuch in Washington mahnt die Kanzlerin im Januar die USA zu mehr Klimaschutz. Im Februar nennt Merkel den Ausbau erneuerbarer Energie wegweisend und fährt extra nach Rheinmünster, um dort ein kleines Biomasse-Kraftwerk einzuweihen. Im März gibt die Kanzlerin bekannt, dass sie den Klimaschutz zum Topthema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft machen wird. Es folgt der Energiegipfel im Kanzleramt, bei dem es um Klimaschutz und Versorgungssicherheit geht. Und so weiter.

Das bringt den Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) gehörig in Zugzwang: Schließlich ist er der Klimaschutzminister. In den Talkshows erklärt er, dass Klimaschutz Spaß macht, weil man Geld spart. Der politischen Bühne empfiehlt er ein „grünes Industriekabinett“, in dem sämtlicher Klimaschutz verhandelt werden soll. Die CO2-Tricks der Autoindustrie will er sich „nicht länger angucken“. Den Umweltverbänden ruft er zu: „Wir brauchen euch!“

Kaum eine Woche vergeht, in der die ARD-Tagesschau nicht über Klimaschutz berichtet. Kaum eine Zeitung erscheint, in der es nicht um CO2 geht. Sogar die Fußball-WM im Land des Klimaschutz-Weltmeisters soll „kohlendioxidneutral“ ausgetragen werden.

Dazu kommen Hochwasser und Extremhitze, Al Gores Klima-Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ und Nicholas Stern. Der ehemalige Weltbank-Chef fertigt der britischen Regierung einen dramatischen Bericht zu den Kosten der Erderwärmung. Nach Sterns Berechnungen wird der Klimawandel die Welt bis 2050 verheeren wie der Zweite Weltkrieg – durch Hungersnöte, Stürme, Fluten, Dürren.

Scheint so, als ob das Thema Klimaschutz 2006 bei den Menschen, in der Wirtschaft, bei den Politikern angekommen ist. In Umfragen wünscht sich das Wahlvolk mehr Klimaschutz von Politik und Wirtschaft. Der Energiekonzern EnBW veranstaltet die „Erste Deutsche Klimakonferenz“. Und der Bundestag beschließt im November ein neues Klimaziel: Deutschland wird seinen Kohlendioxidausstoß bis zum Jahr 2020 um 40 Prozent gegenüber 1990 senken.

Gabriel fährt auf die UN-Weltklimakonferenz nach Nairobi und lässt sich feiern. Dafür aber gibt es überhaupt keinen Grund. Auch wenn „Kohlendioxid“ und „Klimaschutz“ in jeder politisch korrekten Rede des Jahres 2006 vorkommen müssen: Im Kampf gegen die Erderwärmung ist es ein verlorenes Jahr. Gabriel will der deutschen Industrie für die zweite Handelsperiode mehr Emissionszertifikate zubilligen, als die Industrie tatsächlich an Kohlendioxid ausstößt. Erst nach drastischer Intervention aus Brüssel gibt Deutschland nach. Bundesverkehrsminister Wolfgang Tiefensee will kein Tempolimit auf deutschen Autobahnen einführen, obwohl alle anderen in Europa eines haben. 3 bis 5 Prozent Kohlendioxid könnten eingespart werden, je nach Berechnung. Deutschland lehnt den Emissionshandel am Himmel ab, den Brüssel gern für die Airlines bindend machen würde. Nicht ein einziges Gesetz zum Klimaschutz kann das Kabinett Merkel am Jahresende vorweisen. Dafür kündigen aber gleich drei Konzerne den Bau von neuen Kohlekraftwerken an.

Das ist das Wesen deutscher Klimapolitik: Weltmeisterlichen Ankündigungen folgen politische Taten auf Kreisliga-Niveau. Was sich prompt in den Zahlen niederschlägt. Obwohl alle politischen Sonntagsreden eine Drosselung des Kohlendioxidausstoßes anmahnen, steigt der Ausstoß des Klimaschädlings 2006 erstmals wieder an – knapp 700.000 Tonnen mehr als 1999.

NICK REIMER berichtet seit 2000 im Ressort Ökologie und Wirtschaft der taz über Energie- und Klimafragen. Zuvor war er taz-Korrespondent in Dresden. 2007 erschien sein gemeinsam mit Toralf Staud verfasstes Buch „Wir Klimaretter“ bei KiWi.

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