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Rettet den Pazifismus!

Die Argumente gegen Irakkrieg sind dünn. Ein Blick auf die Geschichte der Friedensbewegung in den Neunzigerjahren zeigt, wie eine große Tradition der Geistesgeschichte ruiniert worden ist

von ROBERT MISIK

Die Bedrückung äußert sich eher als dumpfes Umbehagen denn als artikulierte Kritik. Sie kommt in den Umfragen zum Ausdruck, die, zwischen London und Paris, zwischen Berlin und Wien allesamt gereizte Stimmung gegen einen Krieg zum Sturz Saddam Husseins nachweisen. Und sie fühlt sich an wie ein Phantomschmerz, der einen mehr unbewusst als bewusst spüren lässt, dass etwas fehlt. In diesem Fall: ein realistischer Pazifismus, ein über seine eigenen Aporien aufgeklärter Antimilitarismus.

Im Grunde erweist sich erst jetzt, wie sehr Positionen, die in den Achtzigerjahren noch fast mehrheitsfähig waren, den Boden unter den Füßen verloren haben. Schließlich gibt es diesmal nicht nur Grund zur düsterer Skepsis, sondern auch gute Argumente gegen einen Krieg. Die Risiken für die Region sind unkalkulierbar; grosso modo teilt wohl eine breite Mehrheit der europäischen Öffentlichkeiten diese Meinung. Dennoch bleibt die Antikriegsposition seltsam kraftlos. Es deutet einiges darauf hin, dass es an den Argumenten allein nicht liegen kann. Dafür wird sichtbar, wie sehr die Spaltung des traditionellen linken Antikriegslagers jede kritische Position diskreditiert hat. Wobei die Reste des klassischen Pazifismus an der Unterhöhlung ihrer Haltung einen beträchtlichen Anteil haben dürften.

Es lohnt sich ein kurzer Blick zurück, um noch einmal zu resümieren, wie es dazu kam: Im Grunde glichen sich die Debattenlagen während der Neunzigerjahre überall im Westen, wenngleich sie durch das Prisma nationaler Besonderheiten gebrochen waren. Vor dem Hintergrund massiver Menschenrechtsverletzungen, „ethnischer Säuberungen“ in zerbrechenden Vielvölkerstaaten und der Entfesselung von Gewalt in den „Failed States“ von Somalia über Ruanda bis Bosnien schwenkten die amerikanischen linksliberalen Eliten auf einen neuen „humanitären Interventionismus“ ein – repräsentiert durch den damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Bald verschrieben sich weite Teile der ehemals linken Intelligenz Frankreichs der Überzeugung, für die universale Geltung der Menschenrechte müsse im Notfall auch mit Gewalt eingetreten werden. Gleichsam nebenbei arbeiteten sich die Protagonisten dieser Position – André Glucksmann etwa, Alain Finkielkraut oder Bernard-Henri Lévy – an totalitären Verstrickungen ihres intellektuellen Vorlebens ab; schließlich waren viele von ihnen irgendwann Anhänger von Mao, Pol Pot oder des Sowjetkommunismus gewesen. Und sie gaben ihrer Wendung durch Hinweise auf die dunklen Seiten der französischen Geschichte quasi historische Legitimation. Appeasement gegen Völkermörder führe in die Tragödie, argumentierten sie. „München“, Chiffre für den so gescheiterten wie ehrlosen Versuch, mit Hitler ins Geschäft zu kommen, wurde zum Schlüsselwort der französischen Debatte.

Die deutsche Debatte verdichtete sich symbolisch im Wort „Auschwitz“. Nahezu im Alleingang brachte Joschka Fischer weite Teile der hiesigen Linken weg von den alten, pazifistischen Überzeugungen. „Ich habe aus der Geschichte nicht nur gelernt: Nie wieder Krieg“, formulierte der spätere Außenminister, „sondern auch: Nie wieder Auschwitz.“ Eingedenk dieser Lehre hatte Fischer nach dem Massaker von Srebrenica eine radikale Kehre gemacht – Gräueltaten dürfe nie wieder tatenlos zugesehen werden. In Folge dieses Gesinnungswandels kam das schillernde Wort „Bellizismus“ auf, in dem sowohl das lateinische Wort für Krieg wie das italienische für Schönheit anklingt. Im Kosovo zogen deutsche Soldaten, eine Premiere nach 1945, wieder in einen Krieg – fünf Monate nachdem erstmals ein rot-grünes Kabinett die Regierung übernommen hatte.

Diese Kehre eines wesentlichen Teils der globalen linken Intelligenz hätte aber wohl nicht zu einem solchen Desaster der Antikriegsposition geführt, wäre der Rest des pazifistischen Milieus nicht in völligen Infantilismus versunken. So wie sich 1991 viele Friedensfreunde an der beispiellosen Annexion Kuwaits durch den Irak weniger stießen als am Entsatzungskrieg durch die US-geführte Allianz und demonstrativ weiße Bettlaken aus den Fenstern hängten, so galten diesem zunehmend verqueren Antiimperialismus die Interventionen in Bosnien und im Kosovo als westliche „Angriffskriege“ gegen das souveräne Jugoslawien – dessen Machthaber Slobodan Milošević die souveräne Vertreibung und Ermordung ethnischer Minderheiten gern zugebilligt wurde. Stur und heroisch fügt sich dieser Pazifismus meist in seine eigene Ohnmacht, spannte bei den mehr und mehr ausgedünnten Ostermärschen Transparente mit der Aufschrift „Für Frieden und Menschenrechte“ auf, ohne auch nur den Versuch zu unternehmen, sich intellektuell dem Dilemma zu stellen, dass in manchen Situationen nur eines von beiden zu haben ist. Dafür wurde Joschka Fischer beim Bielefelder Grünen-Parteitag 1999 ein Farbbeutel ans Ohr geworfen. Ein Infantilismus, der übrigens bis in die Eliten hineinreicht, wie gerade erst der deutsche Spiegel vorführte. In simpel-reduktionistischem Monokausalismus hoben die Hamburger Blattmacher vergangene Woche die Worte „Blut für Öl“ auf das Titelblatt, versehen mit der Unterzeile „Worum es im Irak wirklich geht“.

Mit einem Wort: Auf die Kehre der neuen Bellizisten antworteten ihre Gegner mit einem intellektuellen Autodafé. Dass eine Haltung, die gegenüber militärischer Gewaltanwendung ihre Skepsis bewahrt, heute öffentlich derart delegitimiert ist, hat darin wohl seinen Hauptgrund. Wenngleich auch nicht seinen einzigen. Nach den Hochzeiten der Friedensbewegung der Achtzigerjahre wäre solcher Aktivismus auch in eine Art ästhetische Krise geschlittert, hätte sich die Welt nicht radikal verändert. Der Friedenspathos war bis zum Überdruss ausgebeutet worden. „Der Pazifismus ist so altmodisch geworden wie Birkenstocksandalen und Wollsocken“, schrieb Sibylle Tönnies schon 1995, als die Bosniendebatte hochkochte. Seither versucht sie mit bemerkenswerter Unverwüstlichkeit eine Ehrenrettung des Pazifismus.

Dabei trifft sie einen Punkt: Es ist wohl nicht gesund für die westlichen Gesellschaften, dass der Ort, von dem aus Kritik an zunehmend militärisch orientierter Außenpolitik geäußert werden könnte, unbesetzt – oder besser: von einem Berg an Stumpfsinn voll gestellt – bleibt. Schließlich kann an die Adresse der „humanitären Interventionisten“ durchaus gefragt werden, ob ihr Schwenk die Schwelle für Kriege nicht gesenkt hat. Ein modernisierter Pazifismus täte umgekehrt gut daran, die Bedingungen, unter denen im Notfall militärisch auf Gräuel oder akute Gefahren reagiert werden dürfe, maximal restriktiv zu formulieren – oder, wie das der Berliner Politikwissenschaftler Michael Wachholz nannte, das Programm eines „bedingten Pazifismus“ zu entwerfen. Dessen Ziel müsste es sein, die militärische zugunsten einer polizeilichen Rationalität zurückzudrängen. Nur muss schon anerkannt werden, dass es Situationen geben kann, in denen die Beendigung einer menschlichen Tragödie bloß mit Gewalteinsatz möglich ist.

Eine Entscheidung wird dann ohnehin immer an den Nerven zerren. Dazu trägt bei, dass wir uns noch nicht in einer globalen Ordnung befinden, in der internationale Akteure im Rahmen einer „Weltinnenpolitik“ agieren, aber auch schon nicht mehr in der alten Welt der nackten staatlichen Machtpolitik. Alle Kriege der vergangenen zehn Jahre – vom Golfkrieg 1991 über Bosnien und Kosovo bis zum Afghanistanfeldzug – hatten, wenngleich auf unterschiedliche Weise, den Charakter internationaler Polizeiaktionen mit militärischen Mitteln. Gleichzeitig besteht die Sphäre der Machtpolitik großer Staaten fort – am sichtbarsten repräsentiert durch die Hypermacht USA.

Noch verkompliziert wird die Lage, wenn nicht nur Tragödien, die bereits in Gang sind, als legitime Anlässe „polizeilicher“ Interventionen gelten sollen – sondern auch potenzielle Gefahren, die so groß sind, dass ihnen nur präventiv begegnet werden kann. Eine Situation, wie sie aus Sicht der USA im Irak gegeben ist. Die Bedingung für ein Eingreifen ist wohl insbesondere in diesem Fall, dass die Entscheidung zur Gewaltanwendung so stark wie nur möglich legitimiert wird.

Wobei dies schlüssiger klingt, als es in der Realität ist. Denn der Fortschritt zur Verrechtlichung der globalen Beziehungen kann ein seltsamer Trippelschritt sein, bei dem internationale Legitimation und staatliche Machtpolitik nur ausnahmsweise synchron gehen. Wie dieser Tage: Die UN- Waffeninspekteure verrichten nun ihre Arbeit – wären aber nie in den Irak gelangt, hätten die USA nicht zuvor ihre Drohkulisse mächtig aufgebaut.

Wie schwierig es ist, eine einigermaßen befriedigende Position zu formulieren, hat jetzt der renommierte amerikanische Sozialphilosoph Michael Walzer vorgeführt, der versuchte, seine Haltung in ein paar knappe Prinzipien zu fassen: „Ich möchte, dass das System der Waffeninspektoren funktioniert – und zwar auf eine Weise, dass es zu einem Triumph der Vereinten Nationen wird; ich würde einen UN-Krieg zur Durchsetzung der Inspektionen unterstützen; ich würde einen US-Krieg für einen ‚Regimewechsel‘ nicht unterstützen (obwohl ich nicht bezweifle, dass der Irak eines solchen Regimewechsels dringend bedarf); niemals könnte ich eine Friedensbewegung unterstützen, deren Ziel oder bloß deren Effekt ein Appeasement Saddam Husseins ist.“

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