: Konkurrent Europa
Deutschland und Frankreich wollen keinen Krieg. Aber das hat mit unterschiedlichen Interessen im Irak zu tun – nicht mit einer europäischen Politik, die Frieden zum Ziel hat
Mit seiner abfälligen Bemerkung über das „alte Europa“ hat Donald Rumsfeld den Europäern einen Gefallen getan. Denn was als Tadel gemeint war, entpuppt sich mehr und mehr als positiver Bezugspunkt von so etwas wie europäischer Identität. Tatsächlich glauben ja große Teile etwa der deutschen Öffentlichkeit – je nach politischer Orientierung mit anderem Schwerpunkt –, dass Europa für Werte wie soziale Sicherheit, Kultur und Frieden steht, während die Erdkugel beherrscht wird vom neoliberalen „Konsens“ von Washington, von kultureller „Amerikanisierung“ und den monströsen militärischen Kapazitäten der USA.
Endlich einmal scheint der europäische David – angeführt von Deutschland und Frankreich, die plötzlich sogar eine „Achse“ mit Russland bilden – aufgemuckt zu haben gegen die amerikanische Hegemonie. Aber sind die USA wirklich so supermächtig, wie viele Europäer glauben? Oder äußert sich in den Drohgebärden von Typen wie Rumsfeld weniger die Arroganz des unangefochten herrschenden Goliath als vielmehr eine gewisse Panik über den Niedergang der eigenen Vorrangstellung? Und in Bezug auf Europa: Sehen Schröder, Chirac und Putin wirklich aus wie Vertreter einer alternativen Politik – oder eher wie Konkurrenten im Kampf um Hegemonie?
In Übersee ist in den letzten Jahren wesentlich offener darüber diskutiert worden, ob der „Adler“ sich unter Umständen im „Sturzflug“ befindet, wie es der Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein ausdrückt. Die US-Vormachtstellung ist bedroht – wirtschaftlich, kulturell und auch militärisch. Selbst der in seiner Dimension stets übertriebene ökonomische Boom der Neunzigerjahre und der kurzfristige Ausgleich des Haushaltsdefizits in der Ära Clinton können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die US-Wirtschaft in einer tiefen Krise steckt.
Kein Staat der Welt ist so verschuldet wie die die Vereinigten Staaten. Da die Bush-Administration derzeit horrende Summen für das Militär ausgibt, Unternehmen subventioniert und dem oberen Fünftel der Gesellschaft Steuergeschenke macht, könnte sich diese Situation in nicht allzu ferner Zeit zuspitzen. Zudem hat der Dollar seit den Siebzigerjahren als Weltwährung an Bedeutung eingebüßt – und der monetäre Erfolg des Euro unterstreicht, dass der Rivale Europa Boden gutmacht.
Auch kulturell ist die amerikanische Hegemonie unter Beschuss. Zweifellos ist die US-Kulturindustrie weiterhin dominant, aber seit den Achtzigerjahren ist auf den jeweiligen nationalen Märkten eine erhebliche Konkurrenz entstanden. Man mag den Erfolg von Viva und Eurodisco, von „Asterix“-Spielfilmen und französischem HipHop als strukturelle „Amerikanisierung“ Europas interpretieren – dennoch stellen sie für die USA einen Bedeutungsverlust dar. Ferner ist soeben in Europa die komplette neue Welle patriotisch angehauchter US-Kriegsspektakel wie „Black Hawk Down“ oder „We were Soldiers“ völlig gefloppt – eine ziemliche Niederlage für die willigen Ideologielieferanten in Hollywood.
Was die militärische Überlegenheit betrifft, so spricht der Vergleich der Militärausgaben eine eindeutige Sprache. Doch trotz des Verschwindens der zweiten Supermacht ist die Welt weder friedlicher noch sicherer geworden. Der wirtschaftliche Zerfall im Gefolge des Neoliberalismus und das völlige Fehlen politischer Gegenmaßnahmen führt dazu, dass die US-Regierung auf angebliche Bedrohungen einschlägt wie ein verzweifelter Westler auf die Mücken in einem asiatischen Sumpfgebiet. Aber: Wie erfolgreich sind diese Militäraktionen eigentlich?
Seit der US-Niederlage in Vietnam werden Kriege aus der Luft geführt. Deshalb blieb Saddam Hussein 1991 da, wo er war. Deshalb zog 1999 eine weitgehend intakte jugoslawische Armee aus dem Kosovo ab. Auch die „Eroberung“ des afghanischen Luftraums kann kaum als Erfolg gewertet werden: Die Taliban hatten keinerlei Kampfflugzeuge. Was dagegen militärisch am Boden passiert, weiß die westliche Öffentlichkeit bis heute nicht. Man kann nur hoffen, dass das Ende des Afghanistan-Abenteuers nicht ganz so desaströs wird wie die „Schlacht um Modadischu“. Angesichts dieser Negativbilanz lässt sich der Widerstand der beiden europäischen Kontinentalmächte Deutschland und Frankreich auch so interpretieren: Hier nutzt das „alte Europa“ seine Chance, um sich als neue, alternative Hegemonialmacht ins Spiel zu bringen.
Mit einem Eintreten für soziale Sicherheit und Frieden hat das nicht das Geringste zu tun. Während Schröder und Chirac bei der Bevölkerung als Friedensengel Punkte sammeln, setzen ihre jeweiligen Regierungen innenpolitisch ein noch deutlicheres neoliberales Programm durch als die Bush-Administration. Die angekündigten scharfen Einschnitte ins System sozialer Sicherheit in Deutschland und die Verschärfung von polizeilicher Kontrolle im Dienste der Sicherheit in Frankreich ergänzen sich da ausgezeichnet. Solche Maßnahmen fallen um so weniger auf, je mehr die öffentliche Aufmerksamkeit auf den Irakkrieg fixiert bleibt. So gesehen profitieren die Regierungen in Berlin und Paris ebenso vom Krieg wie George W. Bush vom 11. September.
Zudem: Wie ernst kann man das Plädoyer einer Bundesregierung für den Frieden nehmen, die mehr Soldaten über den Globus verteilt hat als irgendeine ihrer Vorgängerinnen? Und deren Verteidigungsminister soeben die forcierte Neuausrichtung der Streitkräfte angekündigt hat – weg von der Landesverteidigung, hin zu Auslandseinsätzen? Dass Deutschland und Frankreich derzeit nicht in den Krieg wollen, hat mit unterschiedlichen Interessen im Fall Irak zu tun und nicht mit irgendeiner Politik, die sich von jener der USA maßgeblich unterscheiden würde.
Offenbar spiegeln sich im jüngsten Revival des „alten Europa“ unter der Bevölkerung des Kontinents nostalgische und aktuelle Wünsche nach sozialer Sicherheit und Frieden. Sicher verschafft es dem kritischen Geist in Anbetracht der Ohnmacht gegenüber Neoliberalismus und Krieg kurzfristig ein gutes Gefühl, einmal potente Partner hinter sich zu spüren. Doch Europa zeigt momentan nicht das geringste alternative Potenzial gegenüber den USA. So berechtigt die Kritik an einem Militäreinsatz im Irak erscheint, so wenig nützlich ist es, wenn diese Kritik sich auf Europa beruft.
Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass der Krieg heute bei allen Regierungen wieder als reale Option erscheint, kann man an einer Unterstützung der Polarisierung zwischen Europa und den USA überhaupt kein Interesse haben. Um es zynisch zu sagen: Die militärische Vormacht der USA könnte auch ein Segen sein. Denn genau die verringert die Wahrscheinlichkeit noch folgenreicherer militärischer Auseinandersetzungen.
Wem das zu apokalyptisch erscheint, der sollte bedenken, dass auch die Teilrepubliken Exjugoslawiens sich am Anfang „bloß“ einen „Wirtschaftskrieg“ geliefert haben. Und der ist zwischen den USA und EU bekanntlich schon längst im Gange.
MARK TERKESSIDIS
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen