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Die Shoah ausgeblendet

Wo hört Vergesslichkeit auf und wo beginnt die Ignoranz? Am vergangenen Montag stellte Klaus Briegleb in Hamburg seine umstrittene Studie zum Antisemitismus in der Gruppe 47 vor

von ANDREAS BLECHSCHMIDT

Nur selten dringen literaturwissenschaftliche Debatten über einen kleinen Kreis philologisch Interessierter hinaus. Im Fall der jüngsten Publikation des emeritierten Hamburger Literaturwissenschaftlers Klaus Briegleb ist das anders. Seine Untersuchung Missachtung und Tabu. Eine Streitschrift über die Frage: Wie antisemitisch war die Gruppe 47? stieß auf gereizte Ablehnung im etablierten Feuilleton. Die betraf allerdings weniger den Inhalt, als sie vielmehr auf die Person des Autors zielte. Grund genug für Klaus Briegleb, am vergangenen Montag auf Einladung der Heine-Buchhandlung sein Buch einer interessierten Hamburger Öffentlichkeit vorzustellen.

Die Gruppe 47 war fraglos der einflussreichste Zusammenschluss von LiteratInnen in Deutschland nach 1945, und ihre Mitglieder gelten bis heute als linke und antifaschistisch orientierte Intellektuelle, Hans Werner Richter, Günther Grass und Alfred Andersch als ihre bekanntesten Protagonisten. Doch jenseits des öffentlichen Mythos, der in einem erheblichen Maße aus der unkritischen Übernahme des stilisierten Selbstbildes der Gruppe entstand, gibt es durchaus Beunruhigendes zur Kenntnis zu nehmen.

Es ist das Verdienst Brieglebs, diese Spur mit dem Gang in die Archive aufgenommen zu haben. Mit der Präsentation seiner Recherchen bringt er ins öffentliche Bewusstsein, dass auch die Gruppe 47 „die Shoah ausblendete (...) und sie zur Tabuzone erklärte“, wie Briegleb notiert. Diese Missachtung, Desinteressiertheit und Verdrängung sind ursächlich der sehr deutsche Kontext der „Vergesslichkeit und der Ignoranz gegenüber Juden und Judentum nach 1945“, den die Gruppe 47 Zeit ihres Bestehens pflegte. Objekte dieser Ausgrenzungspolitik, die maßgeblich durch Hans-Werner Richter forciert wurde, waren bedeutende jüdische Schriftsteller deutscher Sprache wie Paul Celan, Wolfgang Hildesheimer, Hermann Kesten und Peter Weiss. So beschied Richter beispielsweise: „Kesten ist Jude, und wo kommen wir hin, wenn wir jetzt die Vergangenheit miteinander austragen...“

Trotz der scheinbar eindeutigen Sprache „des“ Archivs, möchte Briegleb auf seine Frage nach einem virulenten Antisemitismus in der Gruppe 47 keineswegs vorschnelle Antworten liefern. Briegleb eröffnet sein Buch jedenfalls mit der Feststellung, den alten Vorwurf des Antisemitismus in der Gruppe 47 wolle er so nicht wiederholen. Vielmehr versucht er zuerst, die Nichtthematisierung der jüdisch-deutschen Differenz nach der Shoah innerhalb der Gruppe 47 nachzuzeichnen. Erst hieraus ergibt sich die Frage, in welchem Verhältnis die Gruppe 47 zum deutschen Antisemitismus nach 1945 steht. Denn gerade für eine offene Auseinandersetzung über den konkreten Charakter und die Ausformung eines Antisemitismus nach 1945, in dessen gesellschaftlichen Wirkungszusammenhang die Gruppe 47 steht, warb Briegleb auf der gut besuchten Veranstaltung. Stereotype Etikettierung würde da nur einmal mehr die immer noch ausstehende Auseinandersetzung über Erinnerungsverweigerung und Verdrängung verdecken.

Eine Streitschrift nennt Briegleb selbst sein Buch, und fraglos hat er damit den Widerstreit von kontroversen Argumenten gewollt. Doch auf seine Intervention hin ist bis jetzt wenig im Sinne einer Auseinandersetzung um die Sache passiert. Sollte es wirklich so trivial sein, dass die ablehnende Rezeption im Wunsch nach Verdrängung und Abwehr des Gegenstandes an sich zu suchen ist?

Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu, Philo Verlag, Berlin 2002, 322 S., 16,80 Euro

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