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Von rohen und gekochten Völkern

Ab 10. März wird der knapp 200-seitige Atlas der Globalisierung von „Le Monde diplomatique“ ausgeliefert

von MARIE LUISE KNOTT

Mit über 90 Prozent der Bevölkerung sind die Han-Chinesen die prägende Volksgruppe Chinas. In der Mehrheitssprache werden die Minderheiten im Land nach „rohen“ und „gekochten“ Völkern unterschieden. Als „gekocht“ gelten Volksgruppen, die sich der Han-Kultur assimiliert haben, während die „rohen“ Völker ihre Eigenart zu bewahren vermochten.

Diese Kuriosität ist nachzulesen im China-Kapitel des „Atlas der Globalisierung“, der in der nächsten Woche erscheint. So sinnig und aufschlussreich die Unterscheidung ist, auf die Welt im Zeitalter der Globalisierung ist sie nicht übertragbar. Der Globalisierungsprozess hinterlässt keine „rohen“ Völker, die von der postindustriellen Entwicklung unberührt blieben. Ganz abgesehen davon, dass es für einen Staat, anders als für eine Volksgruppe, nicht erstrebenswert erscheint, „roh“ zu bleiben. Weltweit hat das Internet sich ausgebreitet, weltweit gibt es Finanzmärkte, fast alle Länder (auch China) sind Mitglieder der WTO und arbeiten mit dem IWF zusammen. Und fast alle Regierungen versuchen, durch Teilhabe an der Globalisierung den Wohlstand ihrer Völker zu mehren. Doch um nicht „gekocht“ zu sein – sprich im globalen Prozess auf- oder unterzugehen – bedarf es neben der Öffnung auch immer neuer politischer und wirtschaftlicher Grenzziehungen.

Die Karten und Graphiken in dem knapp 200-seitigen Atlas der Globalisierung erweitern auf vielfältige Weise unser Verständnis von diesem Wechselspiel der Macht. Zwölf Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Neuordnung der Welt angesagt: Welche internationalen Bündnisse haben sich aufgelöst, welche Kooperationsformen sind neu entstanden? Analysiert werden militärische Allianzen wie die Shanghai-Organisation für Zusammenarbeit oder wirtschaftliche Zusammenschlüsse wie die Gesamtamerikanische Freihandelszone, aber auch neue geopolitische Konstellationen oder die Fortentwicklung der internationalen Strafgerichtsbarkeit. Auf vielen Seiten werden die sozialen Folgen der grenzüberschreitenden Erschließung neuer Märkte dargestellt, einschließlich der Kriege und Katastrophen, die viele Menschen zu Flüchtlingen gemacht haben.

Der Atlas der Globalisierung ermöglicht Einsichten über Akteure, Teilhabende und Ausgegrenzte: Wie groß etwa ist die Finanzmacht der 10 reichsten Familien der USA? Welche neuen internationalen Vertragssysteme sind entstanden? Wer treibt Handel mit wem? Welche NGOs sind bereits weltweit vertreten?

Urteile und Vorurteile

Der Atlas der Globalisierung bestätigt und untermauert mittels Karten und Graphiken unsere Vorstellungen und Vorurteile. Wir lernen zum Beispiel, dass es in Afrika zwar viele Internet-Anschlüsse gibt, aber die weltweit floatierenden Investitionssummen den schwarzen Kontinent kaum erreichen. Wir entdecken, dass das Wasser eine rare Ressource ist, die ausgerechnet in Konfliktregionen immer rar wird.

Zugleich widersprechen die Daten und Informationen auch manchen unserer Kenntnisse und Intuitionen. Etwa wenn sie zeigen, dass manche Arme nicht ganz so arm sind, wie die Zahlen besagen. Denn in den armen Ländern wird ein Teil der Grundbedürfnisse jenseits der erfassbaren Geld- und Warenzirkulation durch Subsistenzwirtschaft befriedigt. Die Bohnen, die hinterm Haus wachsen, kommen eben in keiner Statistik vor.

Mit jeder der 92 Doppelseiten wird der Leser ein wichtiges Kapitel des Weltgeschehens aufschlagen. Im ersten Teil geht es um eine globale Bestandsaufnahme, also zum Beispiel um Kommunikation und Medien weltweit, um den internationalen Warenverkehr, um Finanzströme, aber auch um den Aufstieg neuer politischer Mächte. Der zweite Teil bietet vor allem regionale Analysen: Die Welt aus der Sicht Moskaus, Pekings, Washingtons oder Tokios. Auch in diesem Teil geht es immer wieder um Bodenschätze, um Geld- und Handelsströme, um das sich ständig erweiternde internationalen Vertraggsystem, werden die sich daraus ergebenden Machtverhältnissen anschaulich gemacht, und vor allem die Konsequenzen für die (vielfach elenden) Lebensverhältnisse der Menschen.

Nicht roh und nicht gekocht, das heißt heute im globalen Maßstab: dabei sein und sich abgrenzen, um nicht unterzugehen. Diese Balance zu halten, wird zur Überlebensfrage. Sie wird die Welt auch nach dem Ende des Irak-Konflikts beschäftigen, auf politischer wie auf ökonomischer Ebene.

Marie Luise Knott leitet die deutsche Redaktion von „Le Monde diplomatique“.

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