: Die Anwältin von Kabul
AUS KABUL SVEN HANSEN
Einfache ein- und zweistöckige Häuser ziehen sich am Rande des 11. Distrikts den Hang entlang. Strom und Wasserleitungen gibt es hier im Norden Kabuls nicht, dafür Krater von Raketeneinschlägen, in die Kinder Müll werfen. Der Toyota holpert über eines der vielen Schlammlöcher, die die ungeteerten Straßen überziehen. Auf der Rückbank sitzt Saliha Duraz. Die junge Verteidigerin ist mit einem Assistenten des Staatsanwalts unterwegs. Sie suchen zwei Zeuginnen in einem Mordprozess.
Saliha Duraz ist die Anwältin von B. B. Koh und Badam Gul, zwei Schwestern, die wegen Mordes angeklagt sind. Das Opfer ist Badam Guls Ehemann Mirtor. Er ist am 24. April erdrosselt in B. B. Kohs Haus aufgefunden worden. Die Staatsanwaltschaft macht nun drei Menschen für die Bluttat verantwortlich: den Bruder, die Ehefrau und deren Schwester. Badam Gul und der Bruder hätten Mirtor erwürgt. Denn die beiden seien in Wahrheit Geliebte. Und Badams Schwester B. B. Koh habe sich mit den beiden verschworen, sie habe das Opfer in ihr Haus gelockt. Ein echtes Familiendrama also. Als Beweis haben die Ankläger die Aussagen von zwei Zeuginnen vorgebracht. Die Nachbarinnen von B. B. Koh wollen Badam Gul und ihren Schwager gesehen haben, wie sie auf einem Fahrrad fuhren, sich im Hof neckten und mit Wasser bespritzten. Der Beweis für ihre Liebe. Dagegen hätte Badam Gul mit Mirtor oft gestritten und ihre Kinder geschlagen.
Die Suche nach Zeuginnen
Saliha Duraz muss die Nachbarinnen aufsuchen, um die Äußerungen zu überprüfen. Die Frauen dürfen nicht persönlich im Gericht aussagen, ihre Ehemänner haben das verboten. Für die 35-Jährige ist es erst der fünfte Fall, obwohl ihr Jurastudium schon 14 Jahre her ist. Doch Afghanistans politische Wirren und die Taliban verhinderten, dass Duraz schon früher als Anwältin arbeiten konnte. Sie musste nach Pakistan ins Exil, wo die Mutter von drei Kindern keine Möglichkeit bekam, als Anwältin zu arbeiten, sondern Lehrerin wurde.
Die späte Berufseinsteigerin ist heute nicht ganz auf sich allein gestellt. Saliha Duraz wird von Medica Mondiale unterstützt, einer deutschen Organisation, die eigentlich traumatisierte Frauen in Krisengebieten betreut. In Afghanistan stellte Medica fest, dass die Rechtsprechung Frauen massiv diskriminiert und es für sie so gut wie keine Rechtsbeistände gibt. Deshalb trainiert die belgische Medica-Mitarbeiterin und Kriminologin Anou Borrey seit September in Kabul fünf Juristinnen. Duraz ist eine davon.
Es dauert, bis Duraz und ihr Begleiter B. B. Kohs Haus und das der Nachbarn gefunden haben. Doch nur die Anwältin darf eintreten. Der Hausherr ist nicht da, und ohne seine Zustimmung dürfen Männer – das gilt auch für Staatsanwälte – nicht mit den Frauen sprechen. Nach zehn Minuten kommt die Anwältin strahlend heraus. „Die Nachbarin hat gesagt, sie hat die Aussage nie so gemacht, wie die Staatsanwaltschaft behauptet. Außerdem hat sie nicht Badam Gul, sondern deren Tochter mit dem Schwager auf dem Fahrrad gesehen. Und Badam Gul, sagt sie, wäre glücklich verheiratet gewesen.“
Auch als Duraz später aus dem Haus der zweiten Zeugin kommt, triumphiert sie. Die Nachbarin hätte gesagt, nie mit der Staatsanwaltschaft gesprochen zu haben. Auf der Rückfahrt plaudert die Anwältin munter, dann wird es ihrem Begleiter zu bunt. Er fordert sie auf, die Unschuld der Angeklagten zu beweisen. Nein, die Staatsanwaltschaft muss die Schuld der Angeklagten beweisen, kontert Duraz. Ihre Trainerin schaut zu und schweigt. Später wird Borrey ihr raten, ihre Erkenntnisse künftig für sich zu behalten und die Staatsanwaltschaft damit erst im Gericht zu konfrontieren.
Einige Tage später wird im Amtsgericht des 11. Bezirks wieder verhandelt. Die Sitzung soll um 9 Uhr beginnen. Doch weder der Richter noch Angeklagte und Verteidigerin sind da. Mir Nadschibullah trifft erst eine Stunde später ein. Wie für Scharia-Richter vorgeschrieben trägt der 50-Jährige Vollbart und Turban. Er begrüßt die Anwesenden, die in seinem Büro bereits wegen anderer Fälle warten, bekommt Tee und beginnt Dokumente zu unterzeichnen. Afghanische Richter fungieren auch als Notare.
Zwischen den Beurkundungen erzählt er, dass auch sein Vater Richter war und er selbst schon verschiedenen Regimen gedient hat: den Kommunisten, den Mudschaheddin, den Taliban und jetzt der Karsai-Regierung. „Früher mussten wir urteilen, wie die Herrschenden wollten“, heute herrsche dagegen Recht und Gesetz in Afghanistan. Nadschibullah gibt sich liberal. Frauen hätten ein Recht auf Bildung, sagt er, es sei gut, dass sie jetzt Richter werden können.
Es ist Viertel nach elf, als endlich Saliha Duraz mit ihrer Trainerin und den Angeklagten eintrifft. B. B. Koh, Badam Gul und ihr Schwager werden von einem Wächter samt Kalaschnikow und einer Gefängniswärterin, die aber unbewaffnet ist, eskortiert. Duraz entschuldigt sich: eine Reifenpanne. 17 Personen drängen sich nun in dem kleinen kahlen Büro von Richter Nadschibullah. Nichts im Raum weist auf seine Amtsautorität hin, nur sein Handy liegt als Statussymbol auf dem Tisch.
Vor ihm sitzen B. B. Koh und Badam Gul in blauen Burkas, jede ein Kind im Arm. Duraz – in einem schwarzen Wollkostüm und mit schwarzem Kopftuch bekleidet – hält das Eröffnungsplädoyer. Sie sagt, beide Schwestern seien in der Tatnacht beim Schwiegervater gewesen und hätten deshalb gar keine Gelegenheit gehabt, Badams Mann Mirtor umzubringen. Und sie kommt auch auf die Belastungszeuginnen zu sprechen: „Die Nachbarinnen haben mir gesagt, ihre Aussagen seien manipuliert worden. Sie dürfen deshalb nicht verwendet werden.“
Richter Nadschibullah merkt an, diese Aussagen hätten durch Fingerabdrücke beglaubigt werden müssen. Dann haben die Staatsanwälte das Wort, heute ein Mann und ungewöhnlicherweise auch eine Frau. „Die Nachbarinnen sollten vor Gericht erscheinen, doch wir können sie nicht zwingen“, sagt der Staatsanwalt. Dann verweist er darauf, dass Mirtor gedrängt worden sei, in das Haus von B. B. Kohs Familie zu kommen, wo er dann getötet wurde.
Der Richter fragt Mirtors Vater, ob es Anzeichen von Streit unter seinen Söhnen gegeben habe. Der verneint. Die drei Angeklagten seien unschuldig, sie hätten in der Tatnacht bei ihm übernachtet. „Ich weiß nicht, wer meinen Sohn ermordet hat. Aber ich weiß, dass man nicht einfach jemanden anklagen darf“, sagt der Vater. „Ich gebe mein Schicksal in Gottes Hand.“
Teilsieg vor Gericht
Die Staatsanwältin beeindruckt das nicht. B. B. Koh habe das Opfer gedrängt, ins Haus ihrer Familie zu kommen, sagt sie, deshalb sei sie in den Mord verwickelt. Sie fordert den Galgen. Duraz protestiert, die Indizien seien mangelhaft. Außerdem habe nicht B. B. Koh, sondern ihr Mann den Schwager gedrängt zu kommen. Es kommt zum Streit zwischen den beiden Frauen, der immer lauter wird. Richter Nadschibullah mahnt zur Ruhe und sagt nur, der Mörder sei offenbar mit dem Haus vertraut gewesen. Dann zieht er sich mit einem Beisitzer zur Beratung zurück.
Als Nadschibullah wieder erscheint, haben sich die Staatsanwälte schon verabschiedet. Sie seien sich ihrer Sache nicht mehr sicher gewesen, kommentiert Borrey und erzählt, dass die Ankläger den Fall von einem Kollegen übernommen hätten, der versetzt worden sei. Nadschibullah verurteilt B. B. Koh zu fünf Jahren Gefängnis und ordnet die Verhaftung ihres Mannes an. Die Leiche sei schließlich im Haus des Paares gefunden worden, und dort habe sich der Mörder offenbar ausgekannt, wiederholt der Richter. Badam Gul und ihren Schwager lässt er frei.
„Der Richter hat sich an die Gesetze gehalten“, kommentiert Duraz vor dem Richterbüro das Urteil. „Aber B. B. Koh ist unschuldig. In der Berufung werden wir sie freibekommen.“ Nicht nur der Teilsieg freut sie, auch dass sie mittlerweile gelernt habe, vor Gericht gegen Männer zu argumentieren und nicht mehr klein beizugeben.
Sie sei keine ängstliche Person, sagt sie, dennoch sei ihr Job gefährlich. Im 11. Bezirk zu recherchieren sei unproblematisch gewesen – auch wegen der Begleitung durch die Staatsanwaltschaft. Doch Saliha Duraz hat Angst davor, für einen Fall das halbwegs sichere Kabul verlassen oder nur feindlich gesinnten und bewaffneten Männern gegenübertreten zu müssen. Sie will keine Leibwächter und fordert deshalb von der internationale Gemeinschaft, mehr zu tun, um die Sicherheitslage im Land zu verbessern. Denn: „Es ist in diesem Land nicht nur ungewohnt, dass Frauen andere vor Gericht verteidigen, sondern auch, dass sie überhaupt widersprechen.“
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