: „Alle Fakten liegen auf dem Tisch“
INTERVIEW DANIELA WEINGÄRTNER
taz: Monsieur Deliège, die Titelzeile in Ihrer Zeitung, dem „Soir Magazine“, besteht diese Woche nur aus einem Wort: „Endlich!“ Belgien hat seit Jahren auf den Prozessbeginn gegen Marc Dutroux und seine Komplizen gewartet. Sie haben den Fall von Anfang an verfolgt. Wie fühlen Sie sich jetzt?
Jean-Frédérick Deliège: Ich reagiere so kühl wie möglich. Seit August 1996 hat man die Affäre Dutroux in der Öffentlichkeit mit großer Leidenschaft behandelt. Nun da der Prozess beginnt, sollte sich die Rolle der Medien darauf beschränken, nüchtern zu berichten, was im Verhandlungssaal gesagt wird und was dort geschieht. Stattdessen geht alles von vorn los: Das Leid der Familien wird ins Gedächtnis gerufen, die Fundorte der Leichen, die Gerüchte über pädophile Netzwerke … Man tappt wieder in die Gefühlsfalle. Die Leute wollen nicht verstehen, dass ein Prozess eine Stunde null ist. Dass vor Gericht nur zählt, was von heute an hier auf den Tisch kommt an Fakten und Beweisen.
Eine Stunde null würde man sich wünschen. Doch schon im Vorfeld des Prozesses gingen die Pannen weiter: Der Saal ist so ungünstig konstruiert, dass die Nebenkläger, die Eltern der Opfer, die Zeugen nicht sehen können. 1.300 Medienvertreter haben sich angemeldet, aber nur 15 Presseplätze gibt es im Saal …
Die Justiz hatte nicht die Wahl, wo sie den Prozess abhalten will. Die meisten Justizgebäude in Belgien sind 400, 500 Jahre alt. Dort sind die Arbeitsbedingungen für die Journalisten wirklich grauenvoll. Der Bau in der Kleinstadt Arlon ist neu. Es stimmt zwar, dass nicht alle Kollegen jeden Tag das Geschehen im Saal direkt verfolgen können. Aber daneben gibt es zwei Übertragungsräume mit 150 Plätzen. Nach einer Woche, zehn Tagen, wenn sich der Zirkus gelegt hat und die meisten ausländischen Medien abgezogen sind, ist das mehr als ausreichend. Das Problem liegt ganz woanders: Die meisten ausländischen Kollegen haben keine Ahnung, wie das belgische Justizsystem funktioniert. Sie können nicht einordnen, was sie da sehen und hören.
Wie wird denn der Prozess ablaufen?
Die zwölf Geschworenen werden aus den Wahllisten ausgelost. Es gibt vier Angeklagte, denen genau umrissene Vergehen vorgeworfen werden. Dutroux zum Beispiel ist angeklagt, Chef einer kriminellen Bande zu sein, die sechs Personen entführt und eingesperrt hat – fünf davon minderjährig. Als erschwerender Tatbestand kommen Folterungen und sexueller Missbrauch hinzu, die bei vier Opfern zum Tod geführt haben sollen. Wir sind uns doch einig, dass dies eine sehr präzise Anklage ist?
Zugegeben.
Auf dieser Grundlage wird das Verfahren im Geschworenenprozess durchgeführt. Als erste Zeugen werden die drei Ermittlungsrichter gehört, die mit dem Fall befasst waren. Allein Untersuchungsrichter Jacques Langlois soll eine Woche lang vernommen werden. Und danach treten nacheinander alle Zeugen auf, fast fünfhundert Menschen, die in irgend einer Weise zur Aufklärung beitragen können, zum Beispiel Bekannte der Täter oder psychiatrische Gutachter. Die Geschworenen können auch eine zusätzliche Beweisaufnahme verlangen.
Und wie gelangt man zum Urteil?
Am Ende stellt der Vorsitzende Richter den Geschworenen präzise Fragen zu jedem einzelnen Anklagepunkt: Schuldig oder nicht? Die zwölf Geschworenen sitzen allein in einem Raum und müssen auf jede dieser Fragen mit ja oder nein antworten, einen Schuldspruch fällen. Der wird im Saal verlesen. Dann ziehen sie sich erneut zurück, diesmal mit den drei Richtern, und legen ein Strafmaß fest – einstimmig. Die Richter können zwar ihr Fachwissen in die Waagschale werfen, doch auch sie haben je eine Stimme, wie jeder Geschworene.
Warum sollte es ausländischen Journalisten schwer fallen, diesem Verfahren zu folgen?
Meine große Sorge ist, dass all die ausländischen Journalisten sagen: Da seht ihr, alle wichtigen Fragen werden unter den Teppich gekehrt. Weil sie nicht verstehen, dass im Prozess nur die Punkte verhandelt werden können, die in der Anklageschrift stehen. Die belgische Presse hätte hier eine wichtige Übersetzerrolle zu spielen, stattdessen bedient sie die Vorurteile ihrer Leser. Und meine ausländischen Kollegen schreiben die Gerüchte ab – ich würde es ja auch nicht anders machen, wenn ich in einem fremden Land recherchieren müsste.
Aber spricht nicht schon die Tatsache, dass die Ermittlungen sich sieben Jahre lang hinzogen, für mächtige Dutroux-Freunde im Apparat? Das versteht doch im Ausland wirklich kein Mensch!
Die Erklärung ist denkbar simpel: Zwei Monate nach Dutroux’ Verhaftung 1996 lagen alle Fakten auf dem Tisch. Seither ist dem Dossier nichts Neues hinzugefügt worden. Doch die Ermittlungsrichter unterlagen einem solchen Erwartungsdruck, durch die Eltern der Opfer, durch die Medien, die Politiker, dass sie jahrelang dem abseitigsten Hinweis nachgegangen sind. Die gleichen Medien, die diesen Druck erzeugt haben, regen sich nun auf, dass es so lange gedauert hat. Chefankläger Michel Bourlet war zu Anfang auch überzeugt, dass ein landesweites pädophiles Netzwerk existiert, dass Mittäter in den höchsten politischen Kreisen zu suchen sind. Er hat es mir 1996 in einem Interview gesagt. Aber in seiner 56-seitigen Anklageschrift ist davon nicht mehr die Rede. Er hat nicht den kleinsten Beleg dafür gefunden.
Wenn es diese Protektion von ganz oben nicht gibt – wie sind dann all die Pannen im Zusammenhang mit den Ermittlungen zu erklären? Dass zum Beispiel die Polizei ein Haus von Dutroux durchsucht und die schreienden Kinder im Keller ignoriert hat?
Sie sprechen von der Hausdurchsuchung im Dezember 1995 in Marcinelle bei Charleroi. Der Gendarm Michaux, der dorthin geschickt wurde, ist Alkoholiker und ein unfähiger Polizist. Deshalb hat er die Kinder nicht gefunden.
Hatte das Konsequenzen für ihn?
Aber nein, er ist immer noch im Polizeidienst.
Das ist doch aber merkwürdig, oder?
Das ist nicht merkwürdig. Das ist ein Skandal. Punkt. Aber Michaux ist der einfache Flic von nebenan. Der wahre Skandal spielt sich bei seinen Vorgesetzten ab. Denn in der Chefetage der Gendarmerie war Marc Dutroux seit 1995 im Visier. Doch niemand hat die Informationen über ihn an die Justiz weitergeleitet. Sie wollten ihn selber schnappen, ihn auf frischer Tat ertappen, einen Mediencoup landen. Denn zu der Zeit war der Krieg zwischen der der Justiz unterstehenden Polizei und der beim Innenminister angesiedelten Gendarmerie in vollem Gang. Die Gendarmerie wollte demonstrieren, dass sie besser ist, dass die Polizei aufgelöst werden sollte. Wenn man so will, bestand darin die Protektion von Marc Dutroux: Während der Krieg zwischen den beiden Institutionen tobte, konnte er ungestört weitermachen.
Sind daraus denn inzwischen Konsequenzen gezogen worden?
Für die damals verantwortlichen Politiker hatte es keine Folgen. Sie wurden 1999 zwar abgewählt, doch der neue Justizminister Marc Verwilghen war auch nicht besser. Er hat in vier Jahren keine wirkliche Justizreform zustande gebracht. Polizei und Gendarmerie wurden inzwischen zu einem Apparat zusammengeführt, doch das macht alles schlimmer als vorher. Jetzt bekämpfen sich die ehemaligen Polizisten und die ehemaligen Gendarmen innerhalb derselben Institution. Die Chefetage wird von ehemaligen Gendarmen dominiert. In Belgien war die Gendarmerie immer ein Staat im Staate. Ende der 70er-Jahre haben sie sogar einen Staatsstreich geplant, das muss man sich mal vorstellen: Mitten in Europa! Die Politiker sind bis heute unfähig, das aufzubrechen. Das gilt auch für die belgische Justiz. Die Richter werden nach dem Parteibuch ernannt, sie verschleppen Verfahren und sind unfähig, die ermittelnden Polizisten zu kontrollieren, wie es eigentlich ihre Aufgabe wäre.Wenn heute in Belgien noch einmal ein Verbrecher vom Kaliber Dutroux auftauchen würde, gäbe es noch mehr Pannen als damals.
Ist die Schlussfolgerung zulässig, dass die politische Elite Belgiens für den Tod der vier Kinder verantwortlich ist – nicht weil sie an einem pädophilen Netzwerk teilhatte, sondern weil sie unfähig war, die Ermittlungsbehörden zu führen und zu überwachen?
Aber sicher.
Zum Schluss eine persönliche Frage: Sie befassen sich seit Jahren mit belgischer Justiz und Kriminalverfahren in Belgien. Hat das Ihre Haltung zum eigenen Land und Ihren Glauben an die Menschheit im Allgemeinen verändert?
Laut einer Umfrage glauben 88 Prozent der Belgier nicht, dass im Prozess Dutroux die Wahrheit ans Licht kommen wird. Das ist unfassbar. Denn das Urteil der Geschworenen ist die Wahrheit im juristischen Sinne. Punkt. Wie kann man also in einer Umfrage so eine idiotische Frage stellen? Und wie können die Leute so verblödet sein, dass sie das Wesen eines Kriminalprozesses nicht begreifen? Da Dutroux beschlossen hat, zu schweigen, wird man nie die ganze Wahrheit kennen. Da ein Urteilsspruch ein menschliches Produkt ist, wird es die absolute Gerechtigkeit nicht geben. Das wollen die Leute einfach nicht kapieren. Es ändert sich nichts, trotz der ganzen journalistischen Aufklärungsarbeit. Deshalb wird das Dossier Dutroux für mich persönlich der letzte Kriminalfall sein, über den ich berichte.
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