: „Noch mehr sparen wäre Unsinn“
INTERVIEW HANNES KOCHUND BEATE WILLMS
taz: Herr Bofinger, Sie wollen die rot-grün-schwarzen Reformen stoppen. Warum?
Peter Bofinger: Ich plädiere für eine Reformpause. Das soll nicht heißen, dass wir keine Veränderungen bräuchten. Aber wir sollten uns ein bisschen Ruhe und Zeit nehmen, um die Wirkung der Reformen zu überprüfen. Wir erleben im Augenblick einen ziemlichen Aktionismus, und es passieren Dinge, die nicht zusammenpassen.
Wo sehen Sie Widersprüche?
Zum Beispiel bei den Steuerplänen der Union. Eigentlich soll eine weitere Steuersenkung den Bürgern eine Entlastung um zehn Milliarden Euro bescheren. Gleichzeitig wären Mehreinnahmen notwendig, um die Gesundheitsreform zu bezahlen, die die Union vorschlägt. Wo kann man da große Entlastungen versprechen? Diesen Widerspruch räumen ja selbst CDU-Politiker wie Peter Müller ein.
Hat die Union nicht nachgedacht?
Es fehlt der rote Faden, der Gesamtplan. Die Diskussion über weitere Steuersenkungen ist Ausdruck eines völlig konzeptionslosen Handelns. Warum soll überhaupt der Spitzensteuersatz von 42 Prozent, der ab 2005 gilt, weiter sinken?
Damit Wohlhabende und Unternehmen mehr Geld investieren, heißt es.
Das klingt ja nicht schlecht, aber es geht an den Fakten vorbei. In Frankreich werden die höchsten Einkommen mit 50 Prozent besteuert, und dort läuft die Wirtschaft seit Jahren sehr viel besser als hier. Im europäischen Vergleich liegt der deutsche Spitzensteuersatz von 42 Prozent an der unteren Grenze. 36 Prozent, wie von der Union vorgeschlagen, erheben die baltischen Staaten. Ein Land wie Deutschland, das eine hervorragende Infrastruktur bereitstellt, kann sich baltische Steuersätze nicht leisten.
Was sollte man eher tun, statt nochmals die Steuern zu senken?
Die Sozialabgaben sind zu hoch. Weniger Sozialbeiträge, mehr Steuern – dann wären wir im europäischen Maßstab wieder richtig positioniert.
Das Wachstum bleibt aus, weil die Leute zu wenig Geld ausgeben, so Ihre Analyse. Nun bekommen die Leute mehr Geld, weil die Steuern sinken. Ist es nicht egal, ob man durch die Reduzierung der Steuern oder der Sozialbeiträge die Nachfrage ankurbelt?
Nein, die Verteilungswirkung ist eine ganz andere. Bei Steuersenkungen profitieren eher die Gutverdienenden. Wenn man geringe und hohe Einkommen um den gleichen Prozentsatz entlastet, hat der Wohlhabende absolut gesehen mehr Geld in der Tasche. Bei den Sozialabgaben hingegen profitieren kleine und mittlere Einkommen – Wohlhabende zahlen ja nicht in die kollektive Versicherung ein. Der Schub für die Wirtschaft wäre größer, weil Geringverdiener zusätzliches Geld fast vollständig wieder ausgeben.
Irgendwie muss man die Sozialausgaben aber finanzieren. Untergräbt man nicht das System, wenn die Beiträge gesenkt werden?
Durchaus nicht. Die Sozialabgaben sind auch deshalb gestiegen, weil sie für viele Aufgaben benutzt werden, die man aus Steuergeldern bezahlen sollte: die ostdeutschen Renten nach der Wiedervereinigung oder die Finanzierung von Arbeitsbeschaffungsmaßahmen. Wenn es nur die individuellen Risiken abdecken würde, könnte das System weitaus billiger sein. Und viele Beitragszahler würden weniger zahlen.
Wie würden Sie das Sozialsystem denn organisieren?
In der Krankenversicherung gibt es eigentlich nur zwei sinnvolle Alternativen: die Gesundheitsprämie, wie die Union sie vorschlägt, oder die Bürgerversicherung der Grünen.
Warum halten Sie die Kopfpauschale à la Union für überlegenswert?
Jeder Beitragszahler hat heute einen Anspruch auf die gleichen Leistungen aus der Krankenversicherung. Er sollte deshalb auch das Gleiche zahlen.
Die Kopfpauschalen der Union würden aber die geringer Verdienenden überfordern. Warum sollen Arme und Wohlhabende den gleichen Beitrag für die Krankenversicherung zahlen?
Wenn man in den sozialen Sicherungssystemen das Prinzip von Leistung und Gegenleistung stärkt, reduziert das die Möglichkeit der politischen Einflussnahme. Heute kann die Regierung nach Gutsherrenart an den Einnahmen und Ausgaben herumschrauben, weil die Verwendung des Geldes kaum durchschaubar ist.
Und wie wollen Sie ärmere Beitragszahler für die hohen Kopfprämien entschädigen?
Die Rürup-Kommission hat vorgeschlagen, einen Solidaritätszuschlag von fünf Prozent auf die Einkommensteuer zu erheben. Mit den zusätzlichen Einnahmen würden die Bezieher niedriger Einkommen entlastet. Darüber hinaus sollte man über weitere Entlastungen für diese Bevölkerungsgruppen nachdenken.
Die augenblickliche Debatte in der Union zeigt, dass die Ausgleichszahlung im Zweifel hinten runterfällt.
Da beginnt die politische Ökonomie. Eventuell hat man eine Belastung ohne Entlastung. Das ist das Risiko, das aus meiner Sicht aber begrenzbar ist.
Was halten Sie für besser: Die Gesundheitsprämien der Union oder die Bürgerversicherung der Grünen?
Die Gesundheitsprämie hat den Vorteil, dass die Lohnnebenkosten auf einen Schlag von 42 auf 28 Prozent sinken. Bei der Bürgerversicherung ist die Beitragssenkung minimal, außerdem würde sie den privaten Krankenversicherungen das Wasser abgraben. Weil wir eine rasche Lösung brauchen, ist die Gesundheitsprämie auf jeden Fall überlegen.
Um die Kosten der Unternehmen zu reduzieren, verlagert Rot-Grün Teile der Sozialversicherung einseitig auf die Beschäftigten. Für die Riester-Rente, bald auch für Krankentagegeld und Zahnersatz soll man privat vorsorgen. Das kritisieren Sie. Warum?
Wenn die Menschen immer mehr Geld in die private Absicherung sozialer Risiken stecken müssen und zugleich die Einkommen kaum steigen, stagniert die private Nachfrage.
Warum ist der Konsum so wichtig?
Die private Nachfrage macht 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Dass die Deutschen nicht genug Geld ausgeben, ist die eigentliche Ursache unserer Misere, nicht die Lohnnebenkosten.
Uns wird immer erzählt, wir müssten mehr sparen, nicht weniger.
Das ist einfach Unsinn. Deutschland hat mit gut 10 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung eine der höchsten Sparquoten weltweit. Über 210 Milliarden Euro wandern jedes Jahr auf die hohe Kante. Es stimmt einfach nicht, dass die Deutschen nicht fürs Alter vorsorgen. Deshalb ist es auch Unsinn, mit der Riester-Rente Subventionen auszuloben, damit Leute mit hohen Einkommen noch mehr sparen. Wenn man Subventionsabbau machen will, dann ist die steuerliche Subventionierung des Sparens genau richtig. Private Vorsorge sollte nur noch bei Geringverdienern gefördert werden.
Trotzdem sinken wegen der Arbeitslosigkeit die Einnahmen der Rentenversicherung, während die Ausgaben langsam, aber sicher steigen – mehr Rentner sind zu versorgen. Ist die Regierung nicht gezwungen, zusätzliche Finanzquellen zu erschließen?
Schauen Sie, wenn wir etwa in den kommenden fünfunddreißig Jahren ein durchschnittliches Wachstum von zwei Prozent hätten – was nicht völlig unwahrscheinlich ist –, läge das Einkommensniveau 2039 doppelt so hoch wie heute. Deutschland wäre doppelt so reich. Die Leute könnten es sich ohne Probleme leisten, dann 25 Prozent Rentenbeitrag zu zahlen, und nicht 22 Prozent wie heute.
Ist nicht unwahrscheinlich, dass die nächste Generation ihren Wohlstand mit dem heutigen vergleicht? Eher werden sich die Leute ärgern, dass sie ein Viertel des Einkommens für die Altersversorgung aufwenden müssen.
Das weiß ich nicht. Jedenfalls gibt es heute keine ökonomische Notwendigkeit, die private Vorsorge allgemein zu stärken. Im Gegenteil: Wenn die Bevölkerung wirklich so schrumpft wie prognostizert, entstehen neue finanzielle Spielräume. Dann sinken die Kosten für Kinder, Betreuung und Schulen. Weniger Kinder, mehr Alte – das wird sich teilweise neutralisieren. Alles Gründe, heute nicht um jeden Preis das Sparen zu fördern.
Sie reden von 2039. Was ist in den kommenden zehn Jahren? Da nimmt die Finanzlücke zwischen Einnahmen und Ausgaben der Sozialversicherung doch zu, oder?
Die Lücke werden Sie aber nicht schließen, indem Sie die Wachstumsdynamik kaputtmachen. Genau das tut aber die Riester-Rente. Ohne Wachstum in den kommenden Jahren können wir uns später tatsächlich weniger leisten. Dann ist alles ein Problem.
Erst Wachstum, dann Reformen?
Dass die Leute mehr kaufen, muss an erster Stelle stehen. Aber natürlich soll man heute beginnen, moderne Strukturen für Deutschland zu schaffen. An erster Stelle muss eine neue Finanzierungsbasis für die sozialen Sicherungssysteme stehen. Auch in der Bildung kann man vieles bewegen. Es muss nicht sein, dass Erwachsene mit 28 Jahren noch massenhaft an den Universitäten herumsitzen. Das ist doch entwürdigend: Diplomarbeit, Sprechstunde beim Professor. Ich habe mit 23 angefangen zu arbeiten und fand das sehr spannend. Ein vierjähriges Studium als Grundausbildung reicht für die meisten aus.
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