: Ene, mene, muh …
Gespräch mit zwei Demenzkranken
VON GABRIELE GOETTLE
Worlich du bist ein böser gastAll diser welt ain vberlast …Vnd bist so gantz veracht ich sprichEs möchten seichen dhund an dich …PAMPHILUS GENGENBACH (1515)
Das Alter als verfluchenswert zu empfinden und die Alten als überflüssigen Ballast zu betrachten, war, ausgenommen in der winzigen Schonzeit des 20. Jahrhunderts, allgemein verbreitet und der Brauch. Die soziale Absicherung, auch die der vermögenslosen Alten und Hilfsbedürftigen, als verbrieftes Recht und staatliche Pflicht, klingt bereits heute wie ein Traum. Bürokraten zerlegen in fordianischer Manier jede „professionelle“ Hilfe, die der Alte bekommt bzw. beanspruchen darf, in nach Punkten einzeln zu vergütender Handlungen. Das Soziale wird suspendiert. Die Kosten werden transparent. Die Einsparung bekommt einen plausiblen Anstrich und lenkt ab von ihren Ursachen, z. B. einer Unternehmenssteuerreform, die der Wirtschaft bis heute eine Entlastung von 64 Milliarden Euro beschert. Die Ironie der Geschichte will es so, dass die Sozialdemokratie diesen radikalen Raubzug gegen die erkämpften Rechte auf soziale Sicherung gnadenlos vollstreckt. Das ruckweise Wegziehen des Teppichs unter den Füßen sorgt ganz besonders bei den Alten, die ansonsten durchaus noch zur Lebensfreude neigen würden, für eine ganz freudlose und auch verängstigte Grundstimmung. Sie fühlen sich ständig daran erinnert, dass es an der Zeit wäre, den Löffel abzugeben, den sich die Gesellschaft nicht mehr leisten kann. Aber auch das Sterbegeld wurde gestrichen (außer für Beamte und Bundestagsabgeordnete, deren Hinterbliebene bekommen bis zu 7.000 Euro). Demnächst ist eine neu ersonnene Friedhofsgebühr von mindestens 500 Euro zu entrichten. Die Praxisgebühr schreckt vom Arztbesuch ab, und die Streichung des Blindengeldes trieb keinem Politiker die Schamesröte ins Gesicht. Aber das sind nur die Präludien. Momentan herrscht noch ein Zustand geradezu luxuriöser Versorgung mit allem Nötigen, selbst für die gänzlich Vermögenslosen. Für die Nächsten allerdings, die alt werden, für die 68er-Generation, die in den letzten Kriegsjahren und danach Geborenen also, werden dann die Lebensbedingungen im Alter schon ganz anders aussehen. Besonders bei denen ohne Erbe, Amt und Pension. Aber auch dem, der heute gut dasteht und sich davongekommen wähnt, ist die Einreihung ins Heer der „Ballastexistenzen“ ohne „Reha-Potenzial“ womöglich gewiss. Auf dem Demenzkongress in Saarlouis 2003 wurde von einem rasanten Anstieg der Demenzerkrankungen bis 2010 gesprochen. Die Tagespflegeeinrichtung für alte Menschen mit Alzheimer-Krankheit und anderen Demenzerkrankungen in der Schnellerstraße in Berlin-Treptow gehört zur VIA (Verein für integrative Angebote, 1991 von Fachleuten aus Psychiatrie und Geriatrie gegründet) und ist eine von jenen Segnungen, an die wir uns einstmals wehmütig erinnern werden. Fünf examinierte Pflegekräfte und ein Zivildienstleistender betreuen in einer Altbau-Parterrewohnung, mit Garten direkt am Spreekanal, 16 psychisch und physisch instabile alte Männer und Frauen täglich von 7. 30 bis 16. 30 Uhr. Es gibt einen eigenen Fahrdienst, jeder einzelne Tagesgast wird morgens zu Hause abgeholt und nachmittags zurückgebracht, die Übersichtlichkeit der Gruppe erlaubt es, auf den jeweiligen Zustand des Gedächtnisverlustes, der Verwirrung, Desorientiertheit, Depression, Agilität oder Antriebslosigkeit, Inkontinenz usw. ganz individuell einzugehen. Es wird Gymnastik gemacht, Ergotherapie, Gedächtnistraining, Musik und Singen sowie einmal monatlich eine Tanzveranstaltung für Demenzkranke, in einer nahe gelegenen Seniorenfreizeiteinrichtung.
Mit Musik kann man noch ganz viel rausholen, auch körperlich …“, sagt Herr Binder, ein freundlicher Mann um die 50, mit Goldkettchen, Armband und enorm gepflegtem Äußeren, bis hin zur Fasson der Fingernägel. Er adelt den monatlichen Tanznachmittag für die Alten, den er seit längerer Zeit leitet, durch überaus elegante Kleidung mit Weste, er veranstaltet auch die Musikgruppe, singt und bereitet als examinierter Hauswirtschafter in der kleinen Tagesstättenküche die Mahlzeiten zu. Er kocht und bäckt mit Freude, animiert die Alten zur Mithilfe und erfreut sich allgemeiner Beliebtheit. Heute, am 6. Februar 2004, gibt es Kohlrübeneintopf mit Pastinaken und Fleisch, wohlschmeckend und nur aus frischen Zutaten. Die Schwestern sind gut gelaunt und man spürt, dass das so genannte Betriebsklima so ist, dass es Tagesgäste und Personal stimuliert. Diese Stimulation ist es, die die Lebenserwartung der Tagesgäste um drei und mehr Jahre steigen lässt, was freilich immer weniger erwünscht sein wird. Statistisch gesehen lebt jemand, der ins Pflegeheim eingewiesen wird, noch ein viertel Jahr. Diese ehemaligen DDR-Bürger hier dürfen sich ihres eingeschränkten Lebens jedenfalls noch erfreuen. Wir haben unseren jungen Hund mitgebracht, er springt unbefangen und freudig zwischen den streichelnden Händen der elf alten Frauen und Männer hin und her. Die Berührungen des Fells, die bebende Aufregung, das Hecheln und Bellen, rufen die Erinnerungen wach, und bis auf eine Frau, die apathisch bleibt, werden alle mitgerissen und amüsieren sich.
Wir ziehen uns mit Frau P. in den Ruheraum zurück. Die Schwestern haben uns Kaffee, Kekse und etwas Obst gebracht. Wir stellen uns noch mal vor, zur Sicherheit. „Ich heiße mit Vornamen Ilse“, sagt Frau P. mit fester Stimme, „geben Sie mir bitte noch ein bisschen Milch … was soll ich erzählen, also ich war Bibliothekarin, aber an einer wissenschaftlichen Bibliothek, nein, nicht an der Universität. An einem Institut … ich weiß momentan nicht den Namen … Das Schwergewicht war internationale Politik und Wirtschaft. Das Institut war hart an der Grenze, also zum Westen, in der … na, wie heißt denn die Straße?? Egal! Na, jedenfalls im Bezirk Mitte lag das Institut für Internationale Politik und Wirtschaft, ein staatliches Institut, die machten unter anderem Imperialismusforschung, hieß das, es wurden aber auch Bücher herausgegeben, wir hatten sehr viele Zeitschriften, westliche, nicht nur deutschsprachige … ich hatte ja auch Englisch gelernt, habe aber alles vergessen.“ Sie lacht. Je länger sie erzählt, desto jünger klingt ihre Stimme. Sie nimmt ein Schnitzchen Mandarine und sagt: „Ja, das Vergessen, das ist was, das darf man ja nicht, kann sein … sicher, es ist schade um die Zeit, die man beim Lernen verbraucht hat … Aber Sie möchten ja hören von mir, wie sich mein Leben so ergeben hat … Also verheiratet war ich auch, aber das Berufliche vielleicht zuerst. Ich bin ja 1921 geboren, in Bernburg an der Saale, bin uralt“, sie lacht und skandiert: „Weißt du denn, wo Bernburg ist? Bernburg liegt im Tale wo’s die schönsten Mädchen gibt, in Bernburg an der Saale.“ Ihre Wangen röten sich zusehends. „Meine Mutter war Hausfrau, mein Vater war Beamter, Regierungsinspektor, mittlere Laufbahn, kann man sagen. Ich habe auch noch eine Schwester, allerdings ein Nachzügler, sie ist siebzehn Jahre jünger.“
Sie isst in Ruhe von ihrem Kuchen und fährt dann fort: „Ich habe eine kaufmännische Lehre gemacht nach der Schule, anderthalb Jahre, da ich ja mittlere Reife hatte, in Dessau, und da bin ich dann geblieben, ich war dann dienstverpflichtet bei den Junkers-Werken, da konnte man ja nicht weg. Nein, ich war nicht in der Produktion, ich war im Büro, als Stenotypistin, Flugzeug und Motorenwerke. In Bernburg war der Flugzeugbau, aber in Dessau war das Hauptwerk. Wir sind dann natürlich bombardiert worden, na klar doch! Da war nachher nicht mehr viel übrig. Wir saßen im Keller, in so einem soliden Gewölbekeller, da waren die Luftschutzräume. Als wir wieder rauskamen, da war alles weg, das ganze Gebäude.“ Auf die Frage, ob sie vom Faschismus fasziniert war, sagt sie ohne gespielte Emphase: „Nein, überhaupt nicht. Nicht mal am Anfang. Ich hatte ja Freundinnen, die wollten das auch nicht. Wie hieß das … BDM, ja – mit vierzehn, die erste Zeit sind wir hingelaufen, bis fünfzehn, und dann nicht mehr. Dann kamen sie sogar zu meiner Mutter deswegen“, sie lacht, „eines Tages sagt meine Mutter: Weißt du, wer bei uns war? Marie! – das war die Tochter von einem ganz hohen Sozialdemokraten, und die wollte mich zum BDM-Dienst hohlen! Wo ich’s grad erzähle und Sie mich fragen, da fällt mir allerhand ein, ja, die war begeistert. Mein Vater war ja auch dabei, als Beamter, aber mir hat das nicht gefallen … zu viel an Zwang, fast militärisch! Ich erinnere mich nur ungern an diese Zeit, muss ich sagen, obwohl ich da jung war. Na und nach dem Krieg, das Werk war ja zerstört und geschlossen, da bin ich anderswohin, wieder nach Bernburg, in eine Firma, ich weiß nicht mehr … Ach ja, für die Russen haben wir so kleine Figuren hergestellt, Püppchen … so kleine Soldaten usw., als militärisches Material für diese Planspiele, diese Sandkastenspiele, damit haben sie ihre Schlachten dann nachvollzogen … komisch eigentlich, ja … Da war ich auch in der Verwaltung, mal war ich auch in der russischen Kaserne ganz kurz beschäftigt, da konnte ich aber noch gar kein Russisch, das habe ich erst später gelernt. Nee, kann ich heute auch nichts mehr, vielleicht noch die Schrift lesen, aber wenn jetzt ein Russe hier reinkäme und mich was Einfaches fragen würde, dann bekäme ich bestimmt einen Herzschlag vor Schreck!“ Sie lacht.
Dann war ich, glaub ich, nochmal in Dessau bei meinen Freunden, dort hatte ich eine unglückliche Liebe. Für wen, das weiß ich heute nicht mehr, nur, dass sie unglücklich war, weiß ich noch. Es war aussichtslos. Dann bin ich eben nach Berlin gegangen und da bin ich bis heute geblieben. Mein Vater war ja aus Berlin, der ist nach dem Ersten Weltkrieg in Bernburg hängen geblieben und hat dort meine Mutter geheiratet … Wann meine Eltern gestorben sind … ich weiß es nicht mehr. In Berlin habe ich dann erst mal so in der Bibliothek gearbeitet, wie das eben war nach dem Krieg, später musste man dann dafür … in der DDR war das so“, sie klopft so hart auf den Tisch, dass die Tassen leise klirren, „Unterlage vorlegen. Ja, die wollten Nägel mit Köpfen machen: Und da bin ich dann hingelaufen, in die Charlottenstraße, glaub ich, in die Fachschule für Bibliothekare, drei Jahre lang hingelaufen. Eine spezialisierte Ausbildung. Der Lehrer hieß Herr Klimpel, das weiß ich heute noch. Es war nicht schwer, es hat mich nicht besonders beansprucht. Russisch musste ich noch nebenher lernen, das war recht schwierig, sechs Fälle … Aber das ganze Lernen hat sich gelohnt, das war ein solider Beruf. Ich habe dann erst mal gearbeitet in der Bibliothek, der Forschungsanstalt für Schifffahrt, Wasser- und Grundbau auf der Halbinsel hier, Alt-Stralau, direkt am Rummelsburger See, die gibt’s heute noch, die Forschungsanstalt. Dort habe ich auch meinen Mann kennen gelernt. Nein, der war kein Bibliothekar, der war“, sie zeigt auf ihre Stirn, „ein Studierter, ein Wissenschaftler … Ich hab dann, glaube ich, nur noch halbtags gearbeitet. Nein, Kinder habe ich keine. Manchmal sage ich, leider, manchmal bin ich froh. Mein Mann war überzeugter Kommunist. Er war zwei Jahre älter. Später ist er dann gestorben. Jung noch.Warum, das weiß ich heute gar nicht mehr. Das hat sich mir alles so verschoben. Ich glaube, ich war glücklich mit meinem Mann. Das weiß ich heute alles nicht mehr. Aber an irgendwas erinnert man sich doch: Die Krankheit meines Mannes hatte was mit den Nieren zu tun. Er hatte was an den Nieren. Bestimmt deshalb, weil er im eiskalten Winter immer in kurzen Unterhosen rumlief. Bloß weil sie mich jetzt darauf ansprechen, ist mir das eingefallen, ansonsten denke ich daran gar nicht.“
Sie isst den Rest der Kekse, ein wenig Obst, kaut bedächtig und sagt: „Mehr weiß ich davon nicht. Er ist gestorben, und bis heute bin ich alleine. Ich fühle mich wohl dabei. Vielleicht bin ich mehr ein Einzelgänger. Einen Hund hätte ich schon gern gehabt, aber wer nimmt ihn, wenn ich mal verreise oder krank bin?! Ich war ja nie ein Heimchen am Herd, bin immer gern verreist. Und dann war ich ja auch für die Emanzipation der Frau. Aber das ist für einen Kommunisten auch nicht das Richtige, unlängst habe ich zu einer Bekannten gesagt: Vor der Wohnungstür hört es auf …“, sie lacht ausgelassen. „Reisen war meine wirklich große Leidenschaft. Russland, das kenne ich vom Norden bis hinunter zum Süden. Auf der Krim war ich teils privat, teils im Rahmen der Bibliothek. In Moskau war ich viele Male. Moskau hat mir besser gefallen als Leningrad – das versteht immer keiner – Moskau war nicht nur moderner, es war auch freier. Leningrad war zwar sehr schön, aber da musste man bereits um zehne abends zu Hause sein, da kam man nicht mehr über die Brücken. Das weiß ich noch, das hat sich bei mir eingeprägt! Einmal bin ich mit dem Zug gefahren, ich weiß nicht mehr wohin, und da dachte ich so in meinem Schlafwagen, ach, die nimmt ja gar kein Ende, diese Reise – nein, Verzeihung, im Liegewagen war das. Ich weiß nur noch, man konnte sich bei jeder Tages- und Nachtzeit draußen im Gang – da war eine Russin, die das betreute – da konnte man sich frischen heißen schwarzen Tee holen. Ich bin auch gern geflogen, Interflug hieß das, glaube ich, ich war in Ungarn, in der Tschechoslowakei, in Polen, aber ich erinnere mich noch, ich hatte immer ein bisschen ein schlechtes Gewissen, in Länder zu reisen, die Deutschland überfallen hat. Heute verreise ich so gut wie gar nicht mehr, mal ein Busausflug mit der Tagesstätte, ja, aber alles andere ist im Alter einfach zu beschwerlich. Glücklicherweise habe ich das Reisen rechtzeitig unternommen.
Meine zweite Leidenschaft war das Lesen, ich habe auch viel und gerne wissenschaftliche Literatur gelesen und dann eben das, was es so an modernerer Literatur gab. Im Institut hatten wir ja auch sehr viele Zeitschriften aus dem Westen. Das durfte natürlich nicht jeder lesen, nur ausgewählte Leute, ich konnte alles lesen“, sie lacht, „ich war auf dem Laufenden, und das hat mir genügt. Was ich gedacht habe über den Westen?“ Sie schlägt die Augen nieder und sagt: „Ich habe mir eigentlich nicht viel Gutes gedacht, ne, so im Prinzip … Aber ich habe zu allem geschwiegen. Ich war ja irgendwie Geheimnisträger, hatte, glaub ich, auch irgendwas unterschrieben. Nein, im westlichen Ausland war ich nie, ich hatte keine Verwandten im Westen und nichts. Ich hatte eine gute Arbeit am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft. Meine Handschrift war schön, ich habe auch Karteikarten mit angelegt, es gab ja damals noch keine Computer … Ach, wie sie mich hier so in meine Jugendzeit“ sie lacht, „späte Jugendzeit, hineinziehen, das ist sehr schön … freu ich mich direkt drüber! Können Sie denn das überhaupt ausschlachten? … na, jedenfalls die Karteikarten, die wurden in den Schubkästen angelegt und ergänzt, anfangs war das noch mit der Handschrift, später dann mit Schreibmaschine. Ich hatte ja eine Menge gelernt, Schreibmaschine konnte ich auch, von früher, Steno, die Sprachen, das ist alles vorbei jetzt, nicht? … Verloren gegangen, nicht?“, sagt sie kummervoll. Auf die Frage nach dem Alter und der Vergesslichkeit erklärt sie: „Ich weiß heute gar nicht mehr, wie ich das bemerkt habe, dass ich alt bin … Ein bisschen tut alles weh, aber man gewöhnt sich schnell dran. Die Vergesslichkeit ist wahrscheinlich ein großes Problem. Ich vergesse alles! Ich kann einfach nichts dafür … Ich merke mir, was länger zurückliegt, noch ganz gut, aber was gestern war, was vorhin war, da muss ich überlegen und meistens komme ich nicht drauf. Also das stört mich eigentlich nicht, ach wo!“ Auf die Bemerkung: „Wenn wir uns nachmittags wiedersehen, und Sie wissen nicht mehr, wer wir sind, dann sind wir traurig und nicht Sie“, lacht sie lauthals bis zum Husten, trinkt dann einen Schluck und sagt vergnügt: „So ist es … was soll ich machen, das Kurzzeitgedächtnis ist eben einfach schlecht, ja … weil das hat ja keinen Zweck gehabt …“
Wir bitten darum, uns kurz ihren Tagesablauf zu schildern. „Das ist so, Moment … ich wohne ja allein. Zweiraumwohnung habe ich, Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küche und Bad, Neubau Parterre. Heizung ist unter dem Fenster, da kann gar nichts mehr passieren. Um sieben morgens klingelt die Schwester, und die gibt mir eine Spritze in den Bauch, weil ich mir ja einen Alterszucker angeschafft habe. Dann schwirrt sie wieder ab. Ich stehe auf und setze mich erst mal in die Küche, die hat ein Riesenfenster, ich sitze und gucke nur in die Gegend, was da so alles vorbeiläuft draußen. Ich seh’s gern, wenn Leute kommen. Dann frühstücke ich schon mal ein bisschen, ein Knäckebrot, ne Tasse Kräutertee. Dann warte ich, was der Tag mir so alles bringt. Wie immer klingelt’s dann irgendwann, das ist der Fahrer von der Tagesstätte, der holt mich ab und fährt mich nach … na – wo ist die? – in Schöneweide ist die. Und da bin ich immer bis 15 Uhr, außer Mittwoch … ja, da ist mein Haushaltstag, ich bleibe zu Hause, weil jemand kommt und alles sauber macht.
An den anderen Tagen bin ich um vier nachmittags wieder zu Hause und den Rest des Tages verbringe ich vor dem Fernseher. Ein Glück, dass es den gibt, nicht? Abends mach ich mir eine Stulle fertig. Zwischen zehn und elf gehe ich dann schlafen. Manchmal lese ich noch ein bisschen. Nein, Schlafmittel brauche ich nicht, ich schlafe gut. Und wenn nicht, dann steh ich auf, gehe in die Küche und rauche eine … Na, Sie lachen, aber ich rauche so wenig, dass kann man eigentlich gar nicht rauchen nennen. Hier in der Tagesstätte rauche ich gar nicht … die Männer nur, die müssen immer rausgehen zum Rauchen, das ist mir zu viel! Und so bringt man seine Tage hin. Einmal im Monat ist Tanzen, da gehen wir hin und tanzen. Seit wann ich das alles mache, das weiß ich gar nicht mehr … Ich nehm das Leben so, wie’s kommt, das Leben und das Sterben … weil das gehört ja irgendwie zusammen. Angst vor dem Tod habe ich eigentlich keine“, sagt Frau P. mit tiefer, fester Stimme, „aber ich rede nicht gern drüber. Religiöse Neigungen habe ich gar keine, ich steh auf dem Standpunkt: Wenn der Zeitpunkt da ist, dann muss es eben sein. Das haben alle vor uns auch schon so gemacht.“ Sie lacht. Herr Binder schaut herein und ruft zum Mittagessen. Sie sagt, während sie sich mühsam erhebt: „Das ist unser Koch und alles – der ist richtig nett, immer lustig …“
Nach dem Mittagessen, das gemeinsam mit dem Pflegepersonal im Tagesraum eingenommen wird, begleiten wir Frau P. kurz zur Fußpflege. Sie ist für Diabetiker noch kostenfrei, aber alle anderen müssen die medizinische Fußpflegerin privat bezahlen, auch wenn sie das Nagelschneiden und Hornhautentfernen nicht mehr selbst bewerkstelligen können. Anschließend treffen wir uns mit Herrn B. bei Kaffee und Kuchen im verglasten Wintergartenanbau. Hier sitzen die Alten gern, wegen der Aussicht aufs Gärtchen und auf die bleigrau in ihrem Kanalbett dahinfließende Spree. Hinter der gegenüberliegenden Kaimauer erstrecken sich verfallende Werkshallen und Fabrikgebäude. Sie sind Teil des riesigen ehemaligen AEG-Komplexes, gegründet von Emil Rathenau, hervorgegangen aus seiner Edison-Gesellschaft – aus der Pionierzeit der Elektrotechnik. Walter Rathenau spielte als Kind im Garten der gelben Fabrikantenvilla. Telefon- und Starkstromkabel wurden hier unter anderem hergestellt, in der DDR war es das Kombinat Kabelwerke Oberspree „Wilhelm Pieck“. Insgesamt arbeiteten im Kombinat 16.000 Leute, im KWO allein 9.000. 1998, nach dem endgültigen Aus der Kabelwerke, wurden in den leer stehenden Hallen anfangs Heiner Müllers „Revolutionsdramen“ aufgeführt. Herr B., der durch vereinigungsbedingte schwere Trunksucht an einem chronischen Korsakow-Syndrom erkrankt ist, hat sein Leben lang drüben in den Kabelwerken gearbeitet. Das wussten wir nicht, als wir uns für ihn und Frau P. entschieden. Wir wählten sie aus, weil sie beim Tanznachmittag das einzige zärtlich Händchen haltende Paar waren. Er rückte ihr den Stuhl zurecht, streichelte ihre Wange, führte sie durch den Raum und brachte sie viel zum Lachen. In der Tagesstelle nennt man sie allgemein das „Traumpaar“. Auch jetzt zum Gespräch sitzen sie nah nebeneinander. Herr B. sagt ein wenig verlegen. „Wir kennen uns ja erst seit vorigem Jahr Sommer, nee, Frühjahr so. Als wir draußen gesessen haben im Garten, da sind wir uns ein bisschen näher gekommen, und dann sind wir zum Tanzen – und seitdem tun wir uns duzen beide. Sind auch öfter zusammen, setzen uns zusammen, essen zusammen.“ Frau P. brummt: „Ooch! Was du so alles erzählst!!“ Herr B. fährt fort: „Sie ist mir aufgefallen, weil sie lustig ist und gern lacht, alles mitmacht. Ich bin ja damals hierher gegangen in die Tagesstelle, damit ich zu Hause nicht auf dumme Gedanken komme. Ich war auch in einer schweren Krise … auch alkoholmäßig …“ – „Du hast zu viel gesoffen!“, ruft Frau P. aus. „Ja, ja, stimmt“, sagt Herr B., „ich hatte meine Arbeit verloren, und, dann auch die Wohnung, weil das Haus saniert wurde. Ich war sogar in so einem Obdachlosenheim drinne, für eine Weile, das ist auch dort gleich gegenüber, bei der Batteriebude. Von da aus hab ich dann die Wohnung gekriegt in Adlershof, wo ich jetzt wohne, eine schöne Wohnung, zwei Zimmer, Balkon, Baddusche, Riesenflur, Vollkomfort, Zentralheizung …“ – „Kann ich ja zu dir ziehen!“, sagt Frau P., aber Herr B. ignoriert das und sagt: „Ich fühle mich sehr wohl, ja, ich bin froh, dass ich wieder unter Menschen bin.“
Er trinkt einen Schluck Kaffee und sagt: „Hier mache ich alles mit, ich gehe auch mit einkaufen, nicht nur zum Großeinkauf. Ich geh auch oft zwischendurch mal für jemand was holen, auch für sie. Wenn einer mal Zigaretten braucht – oder was anderes, dann geh ich los und hole das. Früher hatte ich ja epileptische Anfälle bekommen, das ist jetzt weg, seit einem dreiviertel Jahr. Seit ich hier bin.“ – „Ist das da dein Kuchen?“, fragt Frau P. listig und zeigt mit dem Kuchengäbelchen auf seinen Teller, „gib mal ein Stückchen!“ Er zieht seinen Teller ein wenig zurück und sagt mahnend: „Du sollst das eigentlich nicht, du bist zuckerkrank, du hast eigenen für Diabetiker … Sie hat mal so genascht, dass sie umgefallen ist. Zuckerschock. Da war sie sieben Wochen im Krankenhaus, über Weihnachten und Silvester. Jeden zweiten Tag hab ich sie besucht, immer nach dem Mittagessen bin ich hier abgehauen und nach Tempelhof gefahren …“ – „Wirklich?“, fragt sie, „du bist ein ganz Lieber“, sie hält ihm die Wange hin und sagt sonor: „Du kannst mir auch einen Kuss geben.“ Er küsst erfreut ihre Wange und zwickt sie etwas in die Hüfte. Sie lacht und sagt: „Aber denken sie nichts Falsches, wir sind nur Freunde, wir sind kein Liebespaar.“ Er fügt hinzu: „Ich helfe ihr, wo ich kann … wir sehen uns ja praktisch nur hier, und sie könnte ja praktisch meine Mutter sein …“ Frau P. fragt streng: „Wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“ – „Das weißt du doch“, sagt Herr B., „Manfred, bin am 27. 12. 1954 in Köpenick geboren. Mein Vater war hier Kranfahrer, meine Mutter war Sortiererin. Alle haben wir dort drüben im KWO gearbeitet, auch die Oma, die hat hier Bomben gedreht, glaub ich.“
Frau P. lacht. „Meine Schwester, die war Anlagenfahrerin“, fährt Herr B. fort, „und ich war dort als gelernter Transportarbeiter. Habe schon mit vierzehn angefangen im KWO, erst Bote gemacht, dann war ich Stanzer, das hat mir nicht gefallen, Beizer war ich, habe so Teile glänzend gemacht, das war auch nichts für mich. Da hat mein Vater mich mal zu einer Feier eingeladen in seine Abteilung, die haben mich dann übernommen und ich war praktisch in der Brigade von meinem Vater, da haben wir im Gleisbau gearbeitet, ich habe den ‚Fahrer‘ gemacht, alles so nacheinander, so habe ich mich qualifiziert, ich konnte auf dem Waggon arbeiten, auf dem Kran, alles. Also ganz genau gesagt, war ich Transport-, Umschlag- und Lagerarbeiter. Ich musste zum Beispiel alles fahren, was da war. Auch ’ne Kleinlock, Diesel. Aber nur auf KWO-Gelände. Für Reichsbahn bin ich nicht zugelassen. Springer war ich oft gewesen. Du bist früh hingekommen und wusstest nicht, was du dann den ganzen Tag über machen tust. Der Meister hat gesagt, also du machst heute mal den Gabelstapler, der andere ist auf dem Kran, der dritte macht die Kleisterarbeiten oder das Rangieren. Es konnte sein, dass du jeden Morgen was anderes gemacht hast, je nach dem, wo jemand gebraucht wurde. Man musste vielseitig sein.“
Frau P. wirkt interessiert und hört schweigend zu. „Ich habe auch Dienstfahrten gemacht. Oft war ich die Ferienzeit über gar nicht im Betrieb, sondern habe die Kinder an die Ostsee gebracht, ins Kinderferienlager vom Kabelwerk. Vierzehn Tage war ich dann mit den Kindern an der Ostsee, dann bin ich zurückgekommen, habe praktisch nur meine Sachen gewechselt und bin in ein anderes Ferienlager gefahren. Ja, das waren alles Kinder von Kabelwerkern. Das hat wirklich Spaß gemacht. Mein Geld ist zu 90 Prozent hier weitergelaufen, dann gab’s noch 250 Mark Zulage, und es gab Unterkunft und die Mahlzeiten kostenlos. Da konnte man ganz schön was sparen. Aber ich war ja an sich allein … kinderlos. Es gab auch mal jemand, mal hab ich aus Mecklenburg eine Frau gehabt. Aber sie wollte nicht hierher, und ich wollte nicht hin zu ihr zieh’n, so haben wir uns dann wieder getrennt.“ – „Du Armer“, sagt Frau P. mitfühlend. Er seufzt, deutet mit dem Finger in Richtung der verwitternden Werkshallen und sagt: „Dort drüben, da war mein Leben. Ich hab von 69 an … und kurz nach der Wende, da haben sie uns fast alle entlassen. Wissen Sie, dass es damals verkauft worden ist, an die Königin, die Königin von England?
Das war vielleicht das größte Ereignis in meinem Leben, der Besuch der Königin von England. Kam hier mit dem Schiff an. Es war alles dichtgemacht, die ganze Spree, da kam keiner mehr durch. Dort wo der Schornstein steht, da hat sie angelegt. Sie besichtigte das Kupferwerk, alles wurde tagelang vorher sauber gemacht und geschmückt. Ich habe sie gesehen, in ihrem ganzen Tross. Ich dachte, ich spinne, eine echte Königin! Dann haben die Kinder gesungen, und weg war sie! England wurde ja auch beliefert von uns, aber nur vielleicht einmal im Jahr. Neunzig Prozent wurde für die Sowjetunion hergestellt. Das wurde alles mit dem Schiff … Nur die Schweden, die haben eigene Waggons gebracht und selber abgeholt. Für die Schweden, da wurde extra Holz gespuntelt und gehobelt … die feinsten Trommeln wurden da gemacht, das war nicht so wie für die Russen. Wenn es hieß, die Schweden kommen wieder mal, da wurde jeder Nagel nachgesehen, da wurde alles genau genommen. Für die Russen, da wurde alles so hingepfuscht … Für den Westen, da haben wir ja auch produziert, nicht nur Fernmeldekabel, da wurden auch Starkstromkabel gemacht, weiter hinten, da wo das graue Gebäude ist, und da hinten, da war dann auch noch das Kupferwerk. Es gab ja mehrere Kabelwerke, das war nur das Hauptwerk hier. Und hier im Hauptwerk, da gab es vier Generaldirektoren. Die saßen hinten in der großen Villa, der gelben Villa, da saßen die drinnen. Den ganzen Tag da drinnen. Ich weiß das, denn ich war da mal im Pförtnerdienst. Ich saß unten in der Villa und habe den ganzen Tag nur vor mich hingekickt.“ Frau P. lacht knarrend. „Das ist langweilig, wenn man nur auf die Besucher mal aufpasst oder darauf wartet, dass der Generaldirektor aus seinem Büro herauskommt. Ich habe die Schlüssel entgegengenommen, wenn er rauskam, und ich hab sie ihm gegeben, wenn er wieder kam. Wie an so ’ner Rezeption. Mehr nicht. Da war mir die richtige Arbeit schon lieber. Aber damit stand es dann nach der Wende schlecht. Zuerst haben wir noch ein bisschen gearbeitet, dann haben sie gesagt, jetzt wird entlassen. Erst mal gestaffelt, alle ab fünfzig zuerst. Und dann, ein viertel oder halbes Jahr später, wurden alle über dreißig entlassen. Und da war ich dann selber dabei. Das war ein wirklicher Schlag!“ Frau P. legt ihre Hand auf seine und sagt: „Ach du Armer …“ – „Ja, sie haben gesagt,tut uns leid, es geht nicht mehr, hier haben sie ein paar Mark, das war’s! 1993 haben es dann die Engländer ganz übernommen, da stand dann draußen dran BICC. Weiß nicht, was das heißt. Und 1998 ist es dann ganz platt gemacht worden. Ich habe es damals in der Zeitung gelesen. Aber, ob Sie das nun alles interessiert, was ich Ihnen hier erzähle?“
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