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SPD, willkommen im Kiez!

Morgen entscheidet der SPD-Parteitag im Neuköllner Hotel Estrel über die soziale Agenda 2010. Vorher könnten die Delegierten hier an der Sonnenallee einen Blick auf die soziale Realität werfen

von FELIX LEE und WALTRAUD SCHWAB

Sonnenallee, Neukölln – von hier aus wollen die Sozialdemokraten Hand an den Sozialstaat legen? Im größten Hotel Deutschlands, dem Estrel, das hinter dem S-Bahnhof Sonnenallee thront, versammeln sich die Delegierten. Dreieckig, spitz, rund, gläsern und undurchsichtig ist dessen Architektur. Eine klare, am städtebaulichen Umfeld orientierte Linie lässt das Gebäude nicht erkennen. Ein Fremdkörper aus Glas und Beton ist es, bei dem das Aufsteigende durch das Fallende ausgedrückt wird. So gesehen kommt das Hotel wie ein modernes sozialdemokratisches Paradigma daher.

Die Sonnenallee ist lang. Eine Ost-West-Straße ist es, eine, an der die Genossen die Wirkung ihrer Agenda auf dem Weg zum Tagungsort vorab studieren können. So sie wollten. In dem Bezirk leben 13 Prozent der Bevölkerung von Sozialhilfe. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 23 Prozent. Nach der jüngsten Erhebung des Statistischen Landesamtes fällt ein Viertel der Neuköllner unter die Kategorie „arm“. In Straßen wie der Sonnenallee verdichtet sich der damit verbundene Niedergang. Die Agenda 2010, noch nicht umgesetzt, zeitigt hier bereits Wirkung. „Ich bin seit acht Jahren arbeitslos, außer zwischendurch zwei Jahre ABM. Ich lebe von Arbeitslosenhilfe. 121 Euro die Woche“, sagt ein etwa 50-Jähriger mit vernarbtem Gesicht, der im Unterhemd beim Bier vor dem Café Miami sitzt.

Zwei Menschengruppen lebten in der Straße, die am Herrmannplatz beginnt und nach fast fünf Kilometern in Treptow endet. Da sind jene, denen Neukölln nur als Sprungbrett dient. Einmal etabliert, verschwinden sie aus dem Bezirk, sagen Kenner. Und da sind jene, die den Zeitpunkt für den Absprung nicht schaffen. Sie sind es, die ihre Spuren hinterlassen. Mal als kleine Geschäftsleute, die von Putzeimern über Mehlwürmer und Schnaps bis hin zu Kunstblumen alles im Angebot haben. Mal als Gestrandete, die mit Dönerbuden und Wasserpfeifen über die Runde kommen. Mal als Bodybuilder, Halbstarke, Eisessende, Verliebte, Müßiggänger und Dealer, die gierig darauf warten, dass das Leben sie formt.

Manche warten lange. Sie sitzen in Kneipen, verharren an Bushaltestellen, schauen den Hunden zu. „Familie hab ich leider nicht. 117 Euro in der Woche. Miete und den Rest muss ich vom Sozi holen. Ich war mal Behindertenbusfahrer“, erzählt einer, der auf einem Treppenabsatz sitzt und den Autos nachschaut. Die Demo gegen Sozialabbau, die Sonntag vorbeiziehen wird, kommt für ihn zu spät.

Kurz nach der Wende boomte die Straße. Weil am Ende der Sonnenallee ein Checkpoint war, kamen die Ostberliner und Ostberlinerinnen nach dem 9. November die Straße hoch und kauften sich frei. Fernrohre kennzeichnen die alte Demarkationslinie. Wer hindurchschaut, liest „Übergang“. Ausgerechnet die Sozialdemokraten vollenden ihn nun.

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