piwik no script img

WALTRAUD SCHWAB über den Nabel der Frau

Retrotrance auf Plattform 11

Auf Plattform 11 der Charité trifft sich eine weibliche Sektion der ehemaligen Generation Golf. Hager sind sie, mit scharfen Gesichtzügen. Stirn- und Labialfalten tiefer eingekerbt ins Gesicht als erwartet, zu tief für 50-plus-Frauen. In diesem Alter versetzen die meisten normalerweise Berge. „Old is her gold“ – die Amerikaner sagen, was Sache ist. In Paris wissen alle, um was es geht: „50 plus – rien qu’une femme.“ Auf Deutsch kommen altersaffirmative Slogans eher bieder daher: „Eine Frau bejahrt ist smart.“

Der Chor der auf Plattform 11 versammelten Damen spricht diesen Parolen allerdings hohn. Einige von ihnen stützen sich auf einem Stock ab, andere haben sich ans Fenster gelehnt, und schauen auf die Stadt. „Sieh da, der Reichstag“, sagt eine voll Wehmut. „Ja, hätten wir es damals gewusst, dann wären wir keine Modeopfer geworden“, sagt die Nachbarin.

Es stimmt was nicht mit den Frauen auf Plattform 11. Sie denken in der Vergangenheit, und sie sehen aus wie Vergangenheit. Um den Hals von jeder hängt eine Flasche mit Elektrolytflüssigkeit. Ständig nuckeln sie daran, als hätten sie sich in Kleinkinder zurückverwandelt. Warum sie Modeopfer sind, erklärt das nicht. Darauf angesprochen, sagt Florena Waldbusch: „Wir hätten damals nicht bauchnabelfrei herumlaufen dürfen.“ Bitte? „Ich meine, die Pullover so kurz und die Hosen so tief, das war in.“ Und was bedauern sie nun? „Die Folgen“, antwortet Waldbusch.

Es ist was dran an der Mär, dass die Schnellstarter von damals tief fallen, wenn sie den Himmel nicht erreicht haben. So wie diese Frauen – halb Kleinkind, halb Greisin und sich selbst bemitleidend. Waldbusch war einmal für kurze Zeit Fernsehmoderatorin. Maxine Ülker, die neben ihr steht, hat es als PR-Strategin bis in die Chefetage eines Dotcom-Unternehmens geschafft. Nicht lange allerdings.

Einmal die Woche treffen sich die Betroffenen, um ihre chronischen Nierenschmerzen durch „gemeinschaftliche Retrotrance“ zu lindern. Eine Rückführungsmethode am lebenden Modell ist es, die vom Heilkundigen und Meisterguru Ismael Cho entwickelt wurde und auch von den Privatkassen bezahlt wird. Es hat eine Weile gedauert, bis die Medizin die Ursache der Häufung akuter Nierenschäden bei Frauen zwischen 50 und 60 zuordnen konnte. Am Ende hieß das Verdikt nicht Wasserverunreinigung, sondern Bauchnabelfreiheit. „Ich war damals, als das aufkam, schon 29“, gesteht Waldbusch, „aber verheiratet war ich noch nicht.“ Wer Haut zeigte, hatte mehr Chancen auf dem Heiratsmarkt. Und auch im Fernsehen.

Eine Glocke kündigt den Beginn der Retrotrance-Übung an. Mühsam stellen sich die Damen im Halbkreis auf. Sie halten sich an den Händen und schließen die Augen. Durch eine Tür huschen nun die jungen Models, die den Kranken als Verkörperung ihres Ichs dienen sollen. Sie tragen kurze Röcke und knappe Shirts über der Brust, wie es damals Mode war.

Auf einen erneuten Glockenschlag öffnen die Damen die Augen und fokussieren den Bauchnabel ihres jungen Gegenübers. Über Lautsprecher ertönt sanft die Stimme des Suggestionsmeisters. „Mei-ne-Haut-ist-weich-und-warm---ich-spü-re-kos-mi-sche-E-ner-gie-die-mei-ne-Haut-an-ge-nehm-be-rührt. Und-in-mei-nem-In-ner-en-die-ver-lo-re-ne-Wär-me-re-vi-ta-li-siert.“ Ein zehnminütiges Beschwören der sinnlos vergeudeten Wärme, die sie an die Luft abgegeben haben, weil es so nun mal Mode war.

Im Laufe der Meditation richten sich die schmerzgeplagten Damen tatsächlich etwas gerader auf. Sie starren auf die Haut der Models, streichen mit ihren Augen darüber, dringen in Gedanken in sie ein, als handele es sich um ihre eigene Peepshow.

„Und wie war es?“ fragt der Guru nach der Beschwörung über Lautsprecher. „Ich habe mich ganz leicht gefühlt“, sagt Ülker und hebt ihren Blick ehrfürchtig zur Decke. „Mein Schmerz ist ins Bein gewandert“, sagt Waldbusch artig und wünscht ihrem Model zum Abschied „noch ’nen schönen Tod“. Sie scheint es nicht gemerkt zu haben. „Tod? Tag! Was sind die bescheuert, die Tussen“, sagt das Mädchen, zieht seine Jahrtausendwendeklamotten aus und streift sich den Ganzkörperchlorophyllanzug aus der Serie „Jeder Mensch sein Baum“ über. Er betont ihre wohlgeformten Brüste.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen