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In der Rumpelphase

Rauhes Haus feiert Jubiläum in schwieriger Zeit. Fachhochschule steht vor der Schließung

„Einen durchgeknallten 15-Jährigen kann eine Pflegefamilie nicht auffangen“

Exakt 170 Jahre ist es heute her, dass der Theologe Johann Hinrich Wichern im Auktionssaal der Börsenhalle „Das Rauhe Haus“ gründete. Mit Spenden von Bürgern errichtete der damals 25-Jährige in Horn ein „Rettungshaus“ für verarmte und verwaiste Kinder, das auf der Idee einer überschaubaren “Kinderfamilie“ basierte und sich damit von üblichen Erziehungskasernen abhob. Dafür schenkte ihm der Senatssyndikus Karl Sieveking eine Bauernkate namens „Ruges Hus“. Heute betreut die nach diesem Haus benannte kirchliche Stiftung über 1.300 Menschen und bildet 1.900 Schüler und Studenten aus.

„Das Jubiläum fällt in eine schwierige Zeit“, erklärt Stiftungs-Vorstand Dietrich Sattler. Das Rauhe Haus befinde sich in einer „Rumpelphase“, die von ökonomischen Zwängen geprägt sei. Bei den Jugendlichen beispielsweise rechnet Sattler mit einem Abbau von zehn Prozent der 130 Wohngruppenplätze. Um Kosten zu sparen, brächten Jugendämter immer weniger Kinder in dieser Betreuungsform unter. „Schweren Herzens“ sei das Rauhe Haus leider gezwungen, kleine Wohngruppen zu größeren Einheiten zusammenzufassen, da anders eine Rund-um-die-Uhr-Betreuung nicht möglich sei. Statt bisher sechs bis acht, werden zehn bis zwölf Kinder in einer Gruppe sein.

Auf Kosten der politischen Entwicklung in der Hansestadt geht auch die Schließung mehrerer Wohneinheiten für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in 2002 sowie die des „Statt-Hauses“ als Unterkunft für Straßenkinder in 2003. Es böten sich, so Pastor Sattler, aber auch „positive Perspektiven“. So gebe es in der Jugendhilfe in Billstedt erfolgreiche sozialräumliche Projekte wie die Kooperationen mit Kitas. SozialarbeiterInnen unterstützen dort ErzieherInnen vor Ort und gehen auch in die Familien, um frühzeitig spätere Heimkarrieren von Kindern zu verhindern. Eine Kooperation, die sich Sattler auch für den Schulbereich wünscht.

Neu hinzu kommen auch gezielte Angebote wie eine Wohngruppe für essgestörte Mädchen oder Schulverweigerer. Fachlich „im Prinzip richtig“ sei auch die Linie von Sozialsenatorin Birgit Schnieber-Jastram (CDU), Kinder vorrangig in Pflegefamilien unterzubringen. Da aber auch diese an ihre Grenzen stoßen, übernimmt das Rauhe Haus die fachliche Beratung von 85 Pflegefamilien in Wandsbek. Auch sei es immer noch nötig, Wohngruppen zu erhalten: „Einen durchgeknallten 15-Jährigen kann eine Pflegefamilie nicht auffangen.“

Den mit 21 Wohngruppen, drei Hausgemeinschaften und mehreren hundert Einzelbetreuungen größten Anteil der Stiftung bildet die Behindertenhilfe und Sozialpsychiatrie. Auch hier sieht Sattler eine „dunkle Wolke“ aufziehen, weil die Sozialbehörde ab 2004 „so gut wie keine“ Kostensteigerung zubilligen will.

Extrem gefährdet ist die evangelische Fachhochschule für Sozialpädagogik. Da die Nordelbische Kirche ihren Zuschuss von 720.000 Euro mehr als halbieren möchte, droht Gleiches auch für den städtischen Zuschuss und somit das Aus. Eine hauseigene Projektgruppe hat nun Rettungsvorschläge erarbeitet, die der Kirchenleitung am 20. September übergeben werden.

Partystimmung kommt da nicht auf. Man feiert denn auch nur intern. Groß auf die Pauke hauen will man erst 2008. Dann wird das Rauhe Haus 175 und Gründer Wichern 200 Jahre alt – der übrigens auch im Jahr 1839 für seine Schützlinge den Adventskranz erfand. KAIJA KUTTER

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