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Gericht bedauert Freispruch

Keine Beweise für Beteiligung des früheren „Carlos“-Komplizen Johannes Weinrich an tödlichen Bombenanschlägen in Frankreich. Opferanwälte legen Revision ein

BERLIN dpa/ddp ■ Über 20 Jahre nach drei Bombenattentaten in Frankreich ist der deutsche Terrorist Johannes Weinrich gestern überraschend aus Mangel an Beweisen vom sechsfachen Mordvorwurf freigesprochen worden. Das Berliner Landgericht stellte in seinem Urteil fest, dass Weinrich, der früher als rechte Hand des Topterroristen „Carlos“ galt, eine konkrete Tatbeteiligung nicht nachzuweisen sei. Bei den Anschlägen in Paris 1982 sowie in Marseille und auf einen französischen Hochgeschwindigkeitszug 1983 waren sechs Menschen getötet und 21 verletzt worden.

Weinrich, der 1995 in Jemen festgenommen und an Deutschland ausgeliefert worden war, bleibt trotz des gestrigen Freispruchs aber in Haft. Der 57-Jährige verbüßt seit Januar 2000 in Berlin eine lebenslange Haft wegen des Anschlags auf das französische Kulturzentrum Maison de France 1983 im damaligen West-Berlin. Wegen der besonderen Schwere der Schuld kommt er auch nach 15 Jahren nicht frei.

Weinrich war laut Gericht führendes Mitglied der international agierenden „Carlos“-Bande um den Topterroristen Ilich Ramirez Sanchez. Ob und, wenn ja, welche Rolle er bei den Anschlägen konkret gespielt habe, sei aber nicht eindeutig festzustellen gewesen. Laut Anklage sollte mit den Attentaten „Carlos’“ Ehefrau, die frühere Geliebte Weinrichs, aus französischer Haft freigepresst werden. Weinrich habe die Attentate maßgeblich geplant und organisiert, erklärte die Staatsanwaltschaft und forderte lebenslange Haft. Weinrich selbst schwieg in dem Prozess.

Der Vorsitzende Richter sprach von einem absolut unbefriedigenden Urteil. Die Opfer der „widerlichsten Taten“ hätten einen hohen Blutzoll zahlen müssen, viele Verletzte litten noch heute unter seelischen Qualen. Doch Zeugenaussagen seien nicht verwertbar gewesen, Aktenmaterial aus Frankreich habe gefehlt. Wertungen, Mutmaßungen, Verdachtsmomente sowie magere Ermittlungsergebnisse könnten nicht zu einer Verurteilung führen. „Wir wissen nicht, was wirklich passiert ist.“ Allein die Zugehörigkeit zur Führungsebene der Bande lasse einen Schuldspruch nicht zu.

Weinrichs französische Anwältin Isabelle Coutant-Peyre wertete das Urteil als Zeichen für die Unabhängigkeit der deutschen Justiz. Die Anwälte der Nebenklage warfen der Berliner Justizverwaltung dagegen „skandalöses Verhalten“ vor. Diese hatte eine Anhörung von „Carlos“ in Berlin wegen zu hohen Sicherheitsaufwandes nicht genehmigt. Die Verwaltung habe die Lücke in der Beweiserhebung zu verantworten, erklärten die Opferanwälte. Auch der Vorsitzende Richter kritisierte, mit der Nichtgenehmigung habe man ein hochrangiges Beweismittel nicht ausschöpfen können. „Carlos“, in Frankreich zu lebenslanger Haft wegen Polizistenmordes verurteilt, hatte eine Befragung per Video abgelehnt.

Weitere Zeugen aus Jordanien und Kuba konnten von dem Gericht ebenfalls nicht vernommen werden, da sie nicht nach Deutschland überstellt wurden. Die Nebenklage kündigte gestern an, Revision gegen den Freispruch einzulegen.

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