: Riss im sozialen Netz
Hamburger Gewerkschafter demonstrieren vor der SPD-Zentrale gegen sozialen Kahlschlag und für Tarifautonomie. Partnerschaft aufgekündigt
von KAI VON APPEN
Das Ende einer Partnerschaft: Mit Trillerpfeifen, Rasseln, Wecker und Sirenen marschierten gestern Abend rund 150 GewerkschafterInnen vor der Hamburger SPD-Zentrale auf, um erneut lautstark gegen den Kahlschlag bei den Sozialsystemen durch die rot-grüne Bundesregierung von Kanzler Gerhard Schröder unter dem Kosenamen Agenda 2010 zu protestieren. „Wenn wir nach dem Motto ‚Schröder wach auf‘ demonstrieren, heißt das nicht, dass Schröder nicht weiß, was er tut“, warnt Sieglinde Friess, Landesvorständlerin der Gewerkschaft ver.di. „Leider weiß er es genau!“ Daher müssen wir aufwachen und Lärm machen.“
Denn Schröder strebe eine ideologische Wende der SPD zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und den Ausstieg aus dem Sozialstaat an. Dazu gehörten auch Pläne, notfalls die Tarifautonomie auszuhöhlen. Sogar der Hamburger DGB-Chef Erhard Pumm, selbst SPD-Bürgerschaftsabgeordneter, ist von der Politik der Genossen in Berlin entsetzt. „In diesen Tagen werden die härtesten Einschnitte in der Sozialpolitik beschlossen seit Bestehen der Bundesrepublik“, konstatiert er. „Kürzungen, die das soziale Netz zerreißen und vor allem die Schwächsten treffen: Erwerbslose, Ältere, Kranke und Rentner.“
Und gerade die „Tante SPD“, die von den gewerkschaftlichen Arbeitnehmern und den kleinen Leuten stark gemacht worden sei, werfe nun alle Ideale über Bord. Die Sozialdemokraten seien mit ihren Hartz-Gesetzen, der Gesundheits-, Renten- und Steuerreform dabei, „eine Eiszeit für Arbeitnehmer, Erwerbslose und sozial Schwache einzuläuten“, so Pumm. „Wir wollen keine Gesellschaft der sozialen Kälte, in der nur noch die jung-dynamischen Fitten eine Chance haben auf ein Leben oberhalb des Existenzminimums.“
So werde mit dem geplanten „Arbeitslosengeld II“ die lohnorientierte Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau gesenkt. Das sei ein klarer Wortbruch des SPD-Wahlprogramms 2002. Pumm: „29.000 Langzeitarbeitslose in Hamburg drohen zu verarmen.“
Sieglinde Friess sieht den Zeitpunkt gekommen, sich gegen die „große Koalition der Kapitalslobby“ zu wehren. „Wir lassen uns nicht verscheißern“, so die Gewerkschafterin. „Geld ist genug da, wir müssen es uns nur holen.“ Allein bei der Wiedereinführung der Vermögenssteuer gebe es 50 Milliarden Euro „cash“, bei Rücknahme der Steuerentlastungen bei Veräußerungen „nochmals das Doppelte drauf“. Friess resümiert: „Keine Agenda mit uns, Herr Schröder.“
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