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„Der Deutsche mag es gern geregelt“

Ein Gespräch mit dem Zensurforscher Roland Seim über Jugendliche, die Verbotslisten als „Einkaufsliste“ nutzen, warum Regulierungen typisch deutsch sind, weshalb die Berichterstattung der Boulevardmedien gefährlicher ist als Videospiele – und wieso ein „Gewalttraining“ an Schulen helfen könnte

ROLAND SEIM, 1965 geborener Kunsthistoriker und Soziologe mit Schwerpunkt Medienfreiheit in Deutschland. Er arbeitet zusammen mit Kollegen an dem Projekt www.deutsches-zensurmuseum.de, wo wichtige Fälle und Entwicklungen archiviert und präsentiert werden sollen. Derzeit sind in Deutschland 5.000 Medienprodukte indiziert (darunter 600 Computerspiele) und ca. 600 beschlagnahmt, darunter auch 25 Spiele (z. B. „Manhunt“ und „Condemned 1 & 2“). Seims soziologische Forschungsschwerpunkte sind die Themen Zensur in den Medien, Populär- und Alltagskultur, Musik, Film und Comics. Unter anderem publizierte er die Bücher „Verteufelter Heavy Metal“, „Zwischen Medienfreiheit und Zensureingriffen“ und gründete den Verein „Gegen Zensur – für die Freiheit der Kunst e. V.“, der gegen Zensurversuche im Internet tätig ist.

INTERVIEW MICHAEL EICHHAMMER

taz: Herr Seim, findet in Deutschland eine Zensur statt?

Im Artikel 5 des Grundgesetzes steht: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Für Juristen fällt nur eine Vorzensur darunter. Die gibt es zwar vor allem bei Filmen – in Gestalt der FSK (Freiwillige Selbst-Kontrolle) und auch bei Computerspielen in Form der Unterhaltungssoftware Selbst-Kontrolle (USK). Da das aber freiwillige und halbstaatliche Selbstkontrollgremien sind, gelten sie nicht als Zensurinstitutionen. Sie vergeben Altersfreigaben, verfügen Schnittauflagen oder legen Entschärfungen nahe und können, falls nach Meinung der Juristenkommission Gewaltverherrlichung bzw. Pornografie vorliegt, die Staatsanwaltschaften einschalten. Aber Jugendschutz und Kunstfreiheit sind Grundrechte von Verfassungsrang, man sollte das nicht nur Juristen und Pädagogen überlassen. Denn die Entscheidungen der USK oder der Gremien der Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien (BPJM) betreffen letztlich Millionen von Medienkonsumenten.

Was schlagen Sie vor?

Idealiter soll Selbstkontrolle staatliche Zensureingriffe überflüssig machen. Jugendschutz ist sinnvoll, da nicht alle Medieninhalte für alle Altersklassen geeignet sind. Freigaberegelungen gibt es weltweit. Kritiker vor allem aus Kreisen der CDU halten die Arbeit der USK häufig für zu lasch, da sie aufgrund der angeblichen Nähe zur Spiele-Industrie Gefälligkeitsgutachten vermuten. Spielefans hingegen halten die meisten Formen der Kontrolle oder Entschärfung für ärgerliche Gängelungen mündiger Bürger. Ähnlich verhält es sich bei der Bundesprüfstelle. Die Prüfer verstehen sich als Fels in der Brandung, um Minderjährige vor den übelsten Formen gefährdender Inhalte zu bewahren.

Zweifeln Sie an der Wirksamkeit der BPJM?

Realiter werden die Indices der BPJM gerade von der Zielgruppe der betroffenen Spiele und Filme, also den Minderjährigen, als „Einkaufslisten“ verwendet, denn eine Indizierung wird von vielen Fans gewissermaßen als „Auszeichnung“ und „Kaufempfehlung“ interpretiert. Da ranzukommen verschafft Prestigegewinn im jugendlichen Umfeld.

Können Sie die Bewertungen der BPJM nachvollziehen?

Viele Entscheidungen der BPJM sind gewiss sinnvoll oder zumindest nachvollziehbar. Nicht wenige allerdings lassen tiefere Kenntnisse der zielgruppenspezifischen Codes der Szene vermissen. Eine gewisse Humorlosigkeit scheint in den Gremien Usus zu sein. In Sachen Kunstfreiheit hat die Prüfstelle durchaus dazugelernt, vor allem hinsichtlich von Comics, die früher per se als kinderverblödender Schmökerschund verurteilt wurden. Und immerhin gelten Indizierungen nicht mehr ewig: Seit 2003 werden indizierte Medien in aller Regel nach 25 Jahren wieder von der Liste gestrichen. Vielleicht wird eines Tages auch die Kulturtechnik Computerspiel als zeitgenössische Kunstform anerkannt werden. Katastrophen wie Schulmassaker hingegen dürften die Diskussion vor allem um gewalthaltige Games um Jahre zurückwerfen.

Wie könnte man Jugendschutz aktiv betreiben, ohne gleichzeitig den Wunsch der erwachsenen Spieler nach ungekürzten Spielen zu beschneiden?

Schwierig. Einmal irgendwo auf der Welt veröffentlicht, lassen sich die Distributionswege von digitalen Daten in einer freiheitlichen Mediengesellschaft praktisch nicht mehr regulieren. Es wäre schon viel geholfen, wenn Freunde, Eltern und Lehrer sich mal dafür interessierten, was sich in ihrem persönlichen Umfeld so abspielt.

Warum geht Deutschland restriktiver mit Gewaltdarstellung um als andere Länder?

Der Deutsche mag es offenbar gern geregelt. Die Lösung komplexer Problematiken wird häufig an Staatsorgane delegiert. Es gibt zahlreiche Jugendschutz- und Selbstkontrollgremien, Gesetze und Richtlinien. Damit sollen Normen festgelegt und Kontrollen durchgesetzt werden. Vielleicht ist Deutschland aber auch aufgrund der Geschichte vorsichtiger, was Gewalt angeht. Wir haben so viele Regeln – und sind dann entsetzt, wenn sie plötzlich so massiv gebrochen werden. Traditionell liberale Länder wie Holland oder die skandinavische Region sind da lockerer. In Italien spielt die Regierung eher keine so große Rolle und in den USA hat das Thema Gewalt einen ganz anderen historischen und mentalitätsmäßigen Stellenwert. Dafür ist man dort bei anderen Sachen wie Sexualität, Alkohol oder Zigaretten restriktiver.

Wird ein Amoklauf wie der von Winnenden von Politikern instrumentalisiert, die sich in erster Linie populistisch profilieren wollen?

Bei den üblichen Verdächtigen überraschen die ersten Reaktionen natürlich nicht. Bayern fordert einmal mehr das Verbot von sogenannten „Killerspielen“, der Kriminologe Christian Pfeiffer verlangt schärfere Kontrollen. Wer nur einen Hammer hat, für den sieht alles aus wie ein Nagel, heißt es. Insgesamt hielten Politiker und Medien sich ansonsten aber erstaunlich zurück, was populistische Patentrezepte und Sündenböcke anging, obwohl schnelle einfache Lösungen bei großen Teilen der Bevölkerung sicher gut ankämen. Nach Erfurt und Emsdetten wurden Waffen- und Jugendschutzgesetze verschärft, was Winnenden trotzdem nicht verhindern konnte. Es scheint sich herumgesprochen zu haben, dass komplexe Probleme nicht mit einfachen Mitteln gelöst werden.

Stichwort Wirkungsforschung: Haben brutale Spiele einen Einfluss auf labile Persönlichkeiten?

Auch wenn es eine aufgeklärte, moderne Demokratie nur ungern hört: Gewalt ist ein uralter Bestandteil der menschlichen Natur und Kultur und sicherlich keine Erfindung der Spielehersteller. Im alltäglichen Miteinander zumeist verdrängt oder kanalisiert, lauert sie dennoch subkutan. Ballerspiele können da die Funktion einer in aller Regel harmlosen Ventilsitte haben. Monokausale Auslöser sind solche Games zwar nicht, aber ein Teil einer fatalen Kette von Fehlentwicklungen können sie im Einzelfall durchaus sein. Die Täter scheinen bestimmte „coole“ Schemen adaptiert zu haben, wie z. B. die schwarze Kleidung, den Habitus des einsamen Rächers, den tödlichen Showdown. Man müsste mal klären, woher die Faszination für Waffen kommt. Der Medienhype um Amokläufer – Robert Steinhäuser und Tim Kretschmer schafften es post mortem immerhin auf den Spiegel-Titel – könnte womöglich eine glorifizierende Wirkung haben. Bei dieser Faszination des Schreckens muss man sich aber vor Augen halten, dass es sich bei Amokläufen um das feige Umbringen unschuldiger, arg- und wehrloser Kinder oder anderer Unbeteiligter handelt. Vielleicht sollten die Spielentwickler ihre Games so spannend machen, dass gewaltgeneigte User erst gar nicht mehr vor die Tür gehen, sondern ihre Gewaltfantasien nur dort ausleben, wo sie hingehören.

Was halten Sie von der Art, wie die Medien mit einem Amoklauf wie dem aktuellen umgehen?

Wenn man schon etwas verbieten will, dann sollte es eher die voyeuristische Berichterstattung sein. Die TV-Übertragung von traumatisierten Schockopfern, das distanzlose Ausschlachten des „Body-Counts“, das vulgärpsychologische Herumstochern im Leben und Sterben wildfremder Menschen gerade in den Boulevardmedien halte ich für bedenklicher als die meisten Games. Natürlich ist das Thema von öffentlichem Interesse. Aber je mehr Öffentlichkeit, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Nachahmungstätern oder Trittbrettfahrern. Ähnlich wie bei Serial Killers kann sich daraus ein bizarrer „Kultstatus“ entwickeln. Bei den meisten seriösen Zeitungen gilt das ungeschriebene Gesetz, nicht unnötig über Suizide zu berichten. Bei dieser dramatischen Form des „erweiterten Selbstmordes“ scheint das indes nicht zu gelten, sondern es greift die alte Regel „Bad news are good news“.

Was halten Sie von dem Begriff „Killerspiele“?

Ohne Amokläufe könnte man die Bezeichnung für einen schmähenden Tendenzbegriff halten, der Millionen von harmlosen Gamern desavouieren soll. Letztlich wäre ja auch Schach eine frühe Form von analogem „Killerspiel“. Im Lichte wiederholter Massaker aber erhält er den schalen Beigeschmack einer schillernden Doppeldeutigkeit, die ins reale Leben überlappt. Aber auch Schützenvereine haben ihren idyllischen Ruf uriger Brauchtumspflege und mannhafter Sportsmanship einmal mehr eingebüßt.

Sind Sie radikal gegen jede Art von Zensur an Spielen? Wenn ja, wo endet Ihre Toleranz?

Ein kniffliger Spagat. Auf der einen Seite ist Zensur ein Reflex bei Überforderung gegenüber komplexen unerwünschten Situationen. Anstatt reale Missstände zu verbessern, soll es ein Verbot von Medieninhalten regeln. Auf der anderen Seite bedeutet für mich als Zensurforscher die Kritik an Restriktionen allerdings nicht, dass alles für alle erlaubt sein sollte. In jeder Gesellschaft muss es natürlich Grenzen geben, etwa wenn die Integrität von Mitmenschen verletzt wird. Frühe Beispiele für „Spiele“, die indiskutabel sind, sind z. B. „KZ-Manager“ und „Anti-Neger-Test“. Die Aussagen des dahinterstehenden menschenverachtenden Weltbildes kann niemand gutheißen, der in einer demokratischen Wertegemeinschaft verankert sein möchte. Es dürfte kein Verlust sein, dass derlei verboten wurde. Die alten Fragen sind: Wer bewacht die Wächter? Und wer legt die Grenzen fest?

Findet zu wenig Dialog zwischen den verhärteten Fronten statt?

Die meisten Probleme sind Kommunikationsprobleme, meinte sinngemäß der Soziologe Luhmann. Gerade bei den verhärteten Positionen diametral entgegenstehender Denkansätze wie z. B. zwischen den Heavy-Usern von Computerspielen und konservativen Eltern oder Politikern aus Bayern wäre Dialog sinnvoll. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer war der Auffassung, ein guter Ansatz der sogenannten Hermeneutik wäre, zu bedenken, dass der andere auch Recht haben könnte. Man sollte also nicht nur auf seinem eigenen Standpunkt beharren, sondern auch mal gucken, was den anderen so umtreibt. Wahrheit und Weisheit hat keine Seite gepachtet.

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