piwik no script img

Mehr als ein Streit ums Kopftuch

,,Es geht um die Macht. Die Konflikte werden auf dem Rücken der Frauen ausgetragen“„Es gibt keine Berührungspunkte zwischen alter Elite und neuer Regierung“

aus Istanbul JÜRGEN GOTTSCHLICH

Wie so oft im Anschluss an eine Demonstration waren die Beobachter sich uneinig darüber, wie viele Leute eigentlich teilgenommen hatten. Doch egal, ob man wie die Zeitung Hürriyet von 15.000, wie Radikal von 40.000 oder wie Cumhuriyet einfach von vielen Zehntausenden Demonstranten ausgeht – es waren jedenfalls eine Menge, die am letzten Samstag zum Atatürk-Mausoleum in Ankara pilgerten. 72 Universitätsrektoren hatten gemeinsam mit dem „Verein zur Pflege des Andenkens Atatürks“ zu dem Marsch zum säkularen Tempel der Republik aufgerufen, um gegen „Fundamentalismus und Reaktion“ aufzustehen. Es war die größte kemalistische Manifestation, seit vor knapp einem Jahr die islamisch bestimmte AKP die Regierung in Ankara übernommen hatte, und sie zielte auf den heutigen 80. Jahrestag der Republik. Doch Anitkabir, das Atatürk-Mausoleum, ist kein exklusiver Platz für kemalistische Vereine. Einen Tag zuvor hatte die Regierung bereits ihre eigene Demo am Mausoleum absolviert. Gemeinsam mit Erziehungs- und Bildungsminister Hüseyin Celik waren andere Studenten zum Mahnmahl gepilgert, um ihre Verbundenheit mit dem Begründer der Republik auszudrücken.

Achtzig Jahre nach Ausrufung der türkischen Republik ist der Kampf um das Erbe Mustafa Kemal Paschas, genannt Atatürk, in vollem Gange. Ausdruck dafür ist der Kampf um die Kleidung der Frau. Der von Atatürk als Symbol der Rückständigkeit bekämpfte Schleier erlebt mit der AKP als Kopftuch seine Renaissance.

Nachdem der Konflikt um die innere Verfassung der Türkei lange von dem vermeintlichen Gegensatz zwischen Regierung und Militärführung überdeckt war, ist er nun da angekommen, wo er hingehört: in der Mitte der Gesellschaft. Vordergründig ging es bei den Demonstrationen in Anitkabir um einen konkreten Konflikt. Die AKP will mit einem neuen Universitätsgesetz den Hohen Universitätsrat (YÖK) entmachten. Fast geschlossen wehren sich die Rektoren der staatlichen Universitäten gegen dieses Vorhaben. Die allermeisten von ihnen verdanken allerdings auch YÖK ihren Job.

Der Hohe Universitätsrat wurde nach dem Militärputsch 1980 mit dem Ziel etabliert, aus den „Brutstätten des Kommunismus“ staatskonforme Lehranstalten zu machen. Die Universitäten verloren ihre Autonomie, und der Rat sorgt seitdem dafür, dass missliebige Professoren gefeuert beziehungsweise erst gar nicht mehr an die Unis berufen werden. Nachdem die Linke marginalisiert war, kämpfte YÖK hauptsächlich gegen eine islamische Unterwanderung der Unis. Im Kampf um die Abwehr Kopftuch tragender Studentinnen sorgte YÖK für eine einheitliche Linie. Genau die wäre mit dem neuen Gesetz in Gefahr. Die Regierung nämlich will den Universitäten erlauben, künftig in eigener Regie zu entscheiden, ob sie ein Kopftuch akzeptieren oder nicht.

Das gegenseitige Misstrauen sitzt tief. Während die Rektoren davon ausgehen, die Regierung wolle selbst die Kontrolle über die Unis übernehmen, kämpft diese angeblich nur für die Rechte bislang diskriminierter Studentinnen. Beides ist falsch, sagt die Politologin Nur Vergin. Die streitbare 62-jährige Professorin der Istanbuler Universität wirft Kemalisten wie Islamisten vor, die Frauen lediglich für ihre Ziele zu instrumentalisieren. „Die Konflikte werden auf dem Rücken der Frauen ausgetragen“, sagt sie, dabei geht es beiden Seiten nur um die Macht. Die einen wollen ihre Macht erhalten, während die AKP systematisch darangehe, nach der Regierung die anderen Institutionen der Republik zu erobern.

Es ist kein Zufall, dass sich der Kampf um die Zukunft der Türkei auf den Bildungs- und Wissenschaftssektor konzentriert. Wer die Ausbildung kontrolliert, kontrolliert die Gedanken von morgen. Das jedenfalls glauben sowohl das alte kemalistische Establishment wie auch die neue AKP-Regierung. Noch vor sechs Jahren hatte das Militär den ersten islamistischen Regierungschef der Türkei, Necmettin Erbakan unter anderem deshalb gestürzt, weil sie verhindern wollten, dass die religiös orientierten Schulen zu viel Einfluss erhielten.

Damals wurde die Schulpflicht von vier auf acht Jahre ausgeweitet, um zu verhindern, dass die Eltern ihre Kinder auf so genannte religiöse Imam-Hatip-Schulen schicken. Heute will die AKP durchsetzen, dass die Absolventen der Imam-Hatip-Schulen, die bislang nur zum Theologiestudium zugelassen sind, jedes Fach ihrer Wahl an der Universität belegen dürfen.

Den Alarmismus überzeugter Kemalisten, die bereits den Anfang vom Ende der säkularen Republik sehen, hält Nur Vergin allerdings für übertrieben. „Alle soziologischen Untersuchungen zeigen, dass die Bevölkerung den Laizismus verinnerlicht hat. Auch die meisten Gläubigen haben keine Probleme mit dem Laizismus, sondern mit der herrschenden Laizität“, sagt sie. Weil die Kemalisten alle religiösen Denker aus der Schulausbildung ausgeschlossen haben, wurde erst der Boden für radikale Parolen aufbereitet. „In Anatolien hat ja nie der rigide Islam dominiert. Das hat in der Türkei keine Tradition.“

Doch das beruhigt militante Kemalisten nicht. Bei der Demo am Atatürk-Mausoleum trugen etliche Teilnehmer Transparente mit der Aufschrift: „Ordu göreve!“ – „Armee, tue deine Pflicht“. Das war nichts anderes als eine offene Aufforderung zum Putsch. Doch das mächtige Militär, das 1960, 1971 und 1980 geputscht hat, hält sich dieses Mal zurück.

Stattdessen hat der Staatspräsident sich an die Spitze der kemalistischen Bewegung gestellt. Zum großen Empfang zur Feier des 80-jährigen Bestehens der Republik wurden nur die Abgeordneten der oppositionellen CHP gemeinsam mit ihren Ehefrauen eingeladen. Die Abgeordneten der regierenden AKP müssen allein kommen, weil Ahmet Necdet Sezer befürchtet, sonst mit Kopftuch tragenden weiblichen Ehegatten konfrontiert zu werden.

Dieser Kampf um die Etikette bestimmt nun die Tagesordnung des 80. Jahrestages. Einige AKP-Abgeordnete haben ihre Einladung empört zurückgeschickt, weil sie die Diskriminierung ihrer Frauen nicht hinnehmen wollen. In dieser Haltung werden sie auch von liberalen Kommentatoren und selbst dem des Islamismus unverdächtigen Menschenrechtsverein IHD unterstützt. Andere weisen darauf hin, dass Sezer lediglich geltendes Recht durchsetzt. Kopftücher sind in staatlichen Institutionen und bei Staatsempfängen verboten.

Obwohl sie den ideologisch überhöhten Laizismus ablehnt, hat die Politologin Nur Vergin Verständnis für die Haltung des Präsidenten. Sie glaubt, dass hinter dem Etikettenstreit eine große Vertrauenskrise steht: „Der Präsident hat Zweifel, wie vertrauenswürdig die gegenwärtige Regierung ist. Diese Zweifel sind ganz grundsätzlicher Natur. Für Sezer wie für die gesamte Bürokratie ist die AKP-Regierung eine Blackbox. Man kennt sich weder aus seinem Viertel noch von der Schule. Es gibt keine gesellschaftlichen Berührungspunkte zwischen der alten Elite und der neuen Regierung.“

Dieses Problem, so Frau Vergin, gelte auch für sie. „Ich bin auch nicht sicher, wohin uns diese Regierung führen will.“ Die tiefe Verunsicherung selbst einer Frau, die alles andere als eine engstirnige Kemalistin ist, zeigt das eigentliche Problem der heutigen Türkei. Die Herausforderung an die neue und die alte Elite des Landes ist, den Streit um einen neuen Gesellschaftsvertrag weiterhin in einem demokratischen, zivilen Rahmen zu führen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen