piwik no script img

„Da kocht eine alte Wut wieder hoch“

Der Dokumentarfilmer Martin Keßler hat die Proteste gegen Hartz IV gefilmt. Sein Schluss: Der Widerstand ist jetzt zwar leiser, aber ungebrochen

INTERVIEW SASCHA TEGTMEIER

Auch Martin Keßler hat die Auswirkungen der Wirtschaftskrise schon erfahren: Weil der Dokumentarfilmer sich keinen Kameramann leisten kann, filmte er seine Dokumentation „Neue Wut“, einen Film über soziale Bewegung und Protest, selbst mit einer kleinen Digitalkamera. Von den Demonstrationen beim SPD-Parteitag 2003 bis zu den Opel-Streiks im letzten Jahr war Keßler überall dabei, hat Aktivisten und Politiker begleitet und Interviews geführt. Gerade ist er dabei, 180 Stunden Filmmaterial zu sichten.

taz: Herr Keßler, Sie haben gerade Ihre anderthalbjährigen Dreharbeiten zu Ihrem Dokumentarfilm „Neue Wut“ über soziale Proteste abgeschlossen. Heißt das: Für Sie sind auch die Proteste vorbei?

Martin Keßler: Ich hatte von Anfang an geplant, den Film mit der Einführung von Hartz IV enden zu lassen. Wie die Proteste weitergehen ist eine spannende Frage. Man könnte da wohl eine Polit-Doku-Soap draus machen. Die Zukunft der Proteste zu prognostizieren ist dagegen Kaffeesatzleserei. Die Proteste bewegen sich meiner Meinung nach wellenförmig und sind noch nicht am Ende.

Woran sehen Sie das?

Ich habe die verschiedenen Proteste ab Herbst 2003 begleitet – Studentenproteste, die Großdemos im April, die Konflikte in der Autoindustrie und auch die Anti-Hartz-Proteste. Sie alle drücken einen Grundkonflikt aus, der in anderer Form wieder ausbrechen wird. Es ist auf jeden Fall etwas in Bewegung gekommen.

Am 3. Januar aber, als der Protest gegen die Arbeitsmarktreformen eigentlich wieder losgehen sollte, hat sich relativ wenig bewegt.

Im Moment hat sich der Protest beruhigt. Vergangenen Montag wurde pro forma noch mal Flagge gezeigt. Aber täuschen Sie sich nicht: Die eigentliche Bewährungsprobe für Hartz IV steht noch bevor. Nämlich, ob es tatsächlich mit diesen Instrumenten gelingt, mehr Leute in Arbeit zu bringen. Die Frage ist, in welcher Form wird nun politisch und in der Gesellschaft um diesen Punkt gestritten. Wenn die Politik sich nicht offen genug zeigt, über Alternativen zu diskutieren, wird es weitere Proteste geben.

Für Ihren Film konnte Ihnen eigentlich nichts Besseres passieren als die Montagsdemos. War das Glück oder haben Sie’s geahnt?

Ich habe schon vor anderthalb Jahren mit der Fragestellung gedreht, ob eine neue soziale Bewegung entsteht. Ich habe mich gefragt, ob so etwas wie eine neue APO entstehen wird. Schon bei den Protesten zum SPD-Parteitag im November 2003 in Bochum hat sich gezeigt, dass etwas in Bewegung gerät. Damals haben die Leute schon gerufen „Wir sind das Volk“. Dann die Studentenproteste, die Proteste in der Automobilindustrie – diese Wut hat sich in den Hartz-Protesten noch gesteigert.

Doch jetzt ist die Luft aus den Protesten raus.

Soziale Bewegungen lassen sich nicht so leicht steuern. In ihnen finden Lernprozesse statt – das war ein Crash-Kurs für viele der Montagsdemonstranten. Es ist ein Lernen nicht aus Büchern, sondern durch die Praxis. Im Moment sind wir an einem Punkt, an dem die Menschen erst mal verarbeiten müssen, was passiert ist.

Ist das nicht eher Resignation?

Zum Teil. Es gibt Leute, die resignieren, es gibt aber auch andere, die sagen: Der Protest im vergangenen Jahr hat sich gelohnt, weil er gezeigt hat, dass ich nicht alleine als Arbeitsloser dagestanden habe – es gibt so was wie Solidarität auch unter diesen verschärften Bedingungen.

Aber haben die Proteste über dieses punktuelle Gemeinschaftsgefühl hinaus etwas bewirkt?

Sie haben gezeigt, dass die offizielle Politik ein riesiges Akzeptanzproblem hat. Und dass der Sozialstaat in der breiten Bevölkerung weiterhin verankert ist. Ich finde es erstaunlich, dass die Leute an so vielen verschiedenen Punkten aufgestanden sind und gesagt haben: Das ist ungerecht. Aus diesem Gefühl speist sich auch die Wut, die ich beim Drehen immer wieder erlebt habe.

Wenn ich Sie so reden höre: Ist es auch Ihre neue Wut?

Ein bisschen schon. Als freier Journalist bin ich auch von diesen Entwicklungen betroffen. Dass ich beispielsweise jetzt mit einer Mini-DV-Kamera selbst drehe zeigt schon, dass auch ich mich auf veränderte Bedingungen einstellen muss. Das hat aber auch positive Effekte – man wird kreativer. Es ergeben sich neue Arbeits- und Gestaltungsformen.

War die Wut der Montagsdemonstranten eine emotionale Überreaktion ohne Nachdenken?

Auf mich haben viele Demonstranten erstaunlich reflektiert gewirkt. In meinem Film zeige ich das ganze Spektrum der Demonstranten: von eher Theorielastigen wie Attac-Anhängern bis zu Pragmatikern wie Andreas Ehrholdt, dem Initiator der Montagsdemos in Magdeburg. Die unterschiedlichen Gruppen haben sich heftig gestritten, es hat aber auch Annäherung gegeben.

Die MLPD will die Regierung stürzen, Michael Sommer verteidigt Rot-Grün, solange es geht. Wie kann es jemals eine Zusammenarbeit geben?

Im Mai, also vor den neuen Montagsdemos, wurde solch ein Versuch bereits unternommen: auf dem Perspektivenkongress von neuen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften.

Der auch nicht gerade durch Einigkeit gekennzeichnet war …

Der Kongress ist trotz aller Unterschiede nicht gescheitert. Ein Prozess wurde begonnen, der weitergeht.

Sie scheinen selbst politisch bewegt zu sein. Wie weit konnten Sie zu den Demonstranten bei den Filmarbeiten den nötigen Abstand bewahren?

Meine Grundsympathie für diese Bewegung möchte ich gar nicht abstreiten. Auch bin ich den Menschen – den Protagonisten meines Films, die ich lange begleitet habe – sehr nahe gekommen. Der Abstand stellt sich aber spätestens jetzt beim Bearbeiten des Materials wieder ein. Außerdem versuche ich, einen ausgewogenen Blick auf die sozialen Umbrüche zu werfen.

Dazu haben Sie auch immer wieder „die da oben“ interviewt, zum Beispiel Wolfgang Clement. Haben Sie auch dabei Sympathien entwickelt oder waren Sie der Anwalt des kleinen Mannes?

Nein, nein. Ich bin doch nicht der Anwalt des kleinen Mannes. Ich verstehe mich als unabhängigen Dokumentarfilmer. Und sehe auch Wolfgang Clement als ganz normalen Menschen. Aber das hindert mich nicht daran, ihm die Fragen zu stellen, die mich interessieren.

Sind Sie bei der Nähe zu den Protesten in Versuchung gekommen, hier und da ein paar Tipps zu geben?

Natürlich hat es mich mitunter in den Fingern gejuckt, zu sagen: macht es mal lieber so und so. Aber meine Rolle war die des Beobachters. Ich bin ja nicht der Politberater von Andreas Ehrholdt oder von sonst irgendjemandem. Doch ich hoffe, man kann aus dem Film etwas lernen.

Die Fernsehzuschauer haben im Sommer doch schon genügend Bilder der Montagsdemos gesehen. Warum sollen sie jetzt noch Ihren Film anschauen?

Der Film hat im Unterschied zu der aktuellen Berichterstattung einen längeren Atem. Die aktuelle Berichterstattung hat beispielsweise anfangs ausführlichst über Andreas Ehrholdt berichtet, ihn zum Helden von Magdeburg hochstilisiert. Und ihn dann einfach fallen gelassen. Wie eine heiße Kartoffel. Ich habe gerade erst erneut mit ihm gefilmt, nachdem er seinen Hartz-IV-Bescheid bekommen hat.

Für Ihren Film hat sich jedoch bisher kein Fernsehsender endgültig entschieden. Ist die Zeit der Langzeitbeobachtungen vorbei?

Ich führe noch Verhandlungen. Aber es wird oft argumentiert: Das haben wir alles schon in der aktuellen Berichterstattung gehabt. Mein Film liefert aber einen tiefergehenden, analytischen Blick, macht Zusammenhänge deutlich. Dafür gibt es leider immer weniger Sendeplätze.

Was machen Ihre Zuschauer, nachdem Sie Ihren Film gesehen haben? Gehen sie auf die Straße, in die Politik oder zum Kühlschrank?

Ich mache keinen Agitprop-Film. Der Anspruch ist, zu zeigen, dass fundamentale Umbruchprozesse stattfinden, und wie sich der Protest dagegen entwickelt.

Fast von heute auf morgen brach die Zahl der Demonstranten und die Zahl der Medienberichte ein. Welches Phänomen war da der Auslöser?

An einem gewissen Punkt ist die Haltung der Medien umgeschlagen. Anfangs gab es eine beinahe hysterisch zu nennende Berichterstattung – die Auswirkungen von Hartz IV wurden hochgepuscht. Dann sind die Medien in die Richtung gegangen, dass Hartz IV ja doch nicht so schlimm sei. Dazwischen ist etwas passiert – damit beschäftigt sich der Film auch.

Dazwischen ist es auch zu kalt fürs Demonstrieren geworden. Was bleibt noch von den Protesten in diesem Winter?

Unterschwellig verändert sich etwas. Es entstehen neue Netzwerke, die sich weniger spektakulär entwickeln als die Demos. Diese Prozesse können das jetzige Parteiensystem noch ganz schön durcheinander wirbeln. Deswegen heißt mein Film auch „Neue Wut“. Da kocht eine alte Wut wieder hoch, die der bisherige Sozialstaat weitgehend im Zaum gehalten hat. Die Wut über soziale Ungerechtigkeit, mit der sich viele Menschen nicht abfinden wollen – auch wenn sie jetzt nicht mehr auf die Straße gehen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen