: Späte Strafe für den Täter aus der Nachbarschaft
Heute vor 25 Jahren wurde der frühere Kölner Gestapo-Chef Kurt Lischka wegen Beihilfe zum Mord an 73.000 französischen Juden verurteilt. Jahrelang hatte er unbehelligt in Köln gelebt. Bis Beate und Serge Klarsfeld auf den Täter aufmerksam machten. Nur widerwillig nahm die Justiz Ermittlungen auf
VON KLAUS DAHM
Nicht alle, die an jenem 11. Februar 1980 Einlass begehrten, fanden Platz im Gerichtssaal. Nur etwa 70 Zuschauer passten in den Raum des Kölner Landgerichts am Appellhofplatz, in dem heute vor 25 Jahren das Urteil gegen drei Deutsche verkündet wurde, die wegen der Deportation von französischen Juden vor Gericht standen.
So mussten die meisten der gut 200 Menschen, die zur Urteilsverkündung erschienen waren, unter ihnen französische Juden, auf der Straße ausharren. Schließlich verkündete die 15. Große Strafkammer des Landgerichts das Urteil: schuldig wegen Beihilfe zum Mord an mindestens 73.000 französischen Juden. Die Leute auf der Straße nahmen es begeistert auf. „Nazi-Mörder hinter Gitter!“, skandierten sie.
35 Jahre nach Kriegsende wurde der frühere Gestapo-Chef von Köln, Kurt Lischka, also doch noch verurteilt. Lischka, der im besetzten Frankreich Polizeichef von Paris gewesen war, bekam zehn Jahre, seine Mitangeklagten Herbert M. Hagen und Ernst Heinrichsohn, wurden zu zwölf und sechs Jahren verurteilt. Hagen war Stellvertreter des Militärbefehlshabers in Frankreich und Heinrichsohn Mitarbeiter im Judenreferat von Paris.
Es war die erste und auch die einzige rechtskräftige Verurteilung deutscher Täter im Zusammenhang der „Endlösung der Judenfrage“ in Frankreich. Unzählige Vorermittlungen und Ermittlungsverfahren waren eingeleitet worden, wurden aber wieder eingestellt. Oft war es wegen fehlender schriftlicher Anweisungen schwierig, im Einzelfall die persönliche Schuld nachzuweisen. Angeklagte pflegten sich meist damit herauszureden, dass sie erstens nur ihre Pflicht getan und zweitens von der Vernichtung nichts gewusst hätten.
Im Kölner Verfahren gegen Lischka und seine Mitangeklagten gelang dieser Nachweis. Auf einigen der tausend Dokumente fanden sich die Kürzel der Angeklagten, die bewiesen, dass die Angeklagten Kenntnis davon hatten, dass die Juden nach Auschwitz deportiert wurden und dass sie dort vernichtet werden sollten. Sogar der Terminus der „Endlösung der Judenfrage“ tauchte in zahllosen Dokumenten auf.
Der Prozess fand direkt gegenüber Lischkas altem Dienstsitz statt. 1940 war der 1909 in Breslau geborene Lischka Leiter der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) in Köln geworden, die ihren Sitz im EL-DE-Haus hatte; heute befindet sich dort das NS-Dokumentationszentrum der Stadt. Zuvor war der promovierte Jurist Leiter des Judendezernats bei der Gestapo in Berlin gewesen. Im November 1940 wurde er dann in das von der Wehrmacht besetzte Frankreich versetzt. Als Kommandeur der Sicherheitspolizei und des SD (Sicherheitsdienst) war er Polizeichef von Paris und leitete am 16. und 17. Juni 1942 die ersten Massenrazzien der SS in Paris. 1943 kehrte er nach Berlin zurück, 1944 gehörte er zur „Sonderkommission 20. Juli 1944“.
Für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen wurde Lischka nach dem Krieg nicht. Ein französisches Militärgericht in Paris verurteilte ihn zwar 1950 in Abwesenheit zu lebenslanger Haft. Doch der 1955 geschlossene „Überleitungsvertrag“ zwischen der Bundesrepublik und den drei Westmächten schützte ihn; der Vertrag verhinderte, dass Personen, die in Frankreich in Abwesenheit verurteilt worden waren, in der Bundesrepublik strafrechtlich verfolgt werden. Lischka konnte unbehelligt in Köln leben, war Prokurist im Getreidegroßhandel und baute sich nach und nach eine bürgerliche Existenz auf.
Eine Untersuchung in der Tschechoslowakei, wohin die Briten den nach Kriegsende zunächst untergetauchten und dann in St. Peter Ording verhafteten 1947 ausgeliefert hatten, war ergebnislos verlaufen. Seit 1950 lebte Lischka in der Bundesrepublik.
Dass ein Verfahren doch noch in Gang kam, war verschiedenen Umständen zu verdanken. Da war erstens die Strafanzeige gegen rund 100 im besetzten Frankreich tätige Deutsche (die so genannte Harlan-Liste) im Jahr 1960. Diese führte zu Vorermittlungen bei der Ludwigsburger Zentralstelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen.
Immer wieder kamen außerdem Hinweise seitens der VVN, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Entscheidend aber war schließlich ab 1971 das Engagement von Beate Klarsfeld, die 1968 bekannt geworden war, als sie Kanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit öffentlich geohrfeigt hatte, und ihrem Mann Serge. Die Klarsfelds hatten die Privatanschrift von Lischka in Köln-Holweide ermittelt: Bergisch-Gladbacher Str. 554. Am Nachmittag des 21. Februar 1971 standen sie bei Lischka vor der Tür, gaben sich als Reporter der französischen Zeitung Combat aus und wollten ihn wegen seiner Tätigkeit im besetzten Frankreich befragen und Fotos machen.
Beides lehnte Lischka ab – er roch den Braten. Lischka suchte daraufhin den ihm gut bekannten Essener Rechtsanwalt Ernst Achenbach auf, der sich intensiv für die Beendigung von Kriegsverbrecherprozessen einsetzte. Nebenbei saß er für die FDP im Bundestag. Die beiden kannten sich aus alten Zeiten: Achenbach war unter dem Hitler-treuen Botschafter Otto Abetz Erster Botschaftsrat in Paris gewesen. Achenbach konnte Lischka mit dem Hinweis auf den Überleitungsvertrag beruhigen. Kurz nach dem Besuch der Klarsfelds nahm die Geschichte eine spektakuläre Wendung. Im März 1971 versuchten drei Männer, Lischka in der Nähe seines Hauses zu entführen. Die drei Männer stellten ihn, einer schlug ihn auf den Hinterkopf, zwei andere zerrten ihn an den Armen, um ihn in einen Mercedes zu ziehen. Der Versuch misslang, ein Eisenbahner kam Lischka zu Hilfe, der wehrte sich. Die Kriminalpolizei legte ihm ein Foto von Serge Klarsfeld vor – Lischka identifizierte ihn.
Die deutschen Behörden wussten, was sie zu tun hatten. Der Kölner Oberstaatsanwalt Klein beantragte einen Haftbefehl gegen Serge Klarsfeld wegen Versuchs der Nötigung und der schweren Freiheitsberaubung. Über die Tätigkeit Lischkas bei der Sicherheitspolizei erfuhr die Öffentlichkeit nichts. Serge Klarsfelds Bemühen, die Öffentlichkeit auf den Skandal aufmerksam zu machen, dass Täter 26 Jahre nach Kriegsende immer noch frei herumlaufen konnten, schien vergeblich gewesen zu sein. Daraufhin nahm Beate Klarsfeld am 24. März 1971 Kontakt mit einem Redakteur des Kölner Blattes Express auf. Das titelte: „Beate Klarsfeld gesteht: Mein Mann war der Kidnapper“. Beate Klarsfeld kündigte zugleich eine private Kampagne gegen mehr als 300 Kriegsverbrecher an, die bis dahin ungestraft davon gekommen waren.
Ende März 1971 legten die Klarsfelds der Kölner Staatsanwaltschaft weiteres Belastungsmaterial vor. Sie glaubten, dass eine Strafverfolgung kurz bevorstehe. Stattdessen wurde Beate Klarsfeld vorläufig festgenommen und ein Haftbefehl beantragt. Die Justiz wollte sich offensichtlich nicht mit Lischka befassen, sondern sich die „Aufdecker“ vorknöpfen.
Beate Klarsfeld saß in Köln zehn Tage in Untersuchungshaft. Gegen eine Kaution von 30.000 Mark, die das Bankhaus Rothschild stellte, wurde sie freigelassen. Ein Verfahren gegen sie endete mit zwei Monaten Freiheitsentzug ohne Bewährung wegen gefährlicher Körperverletzung und gemeinschaftlicher Nötigung. In Frankreich und Israel löste diese Entscheidung einen regelrechten Proteststurm aus.
Dass die Bemühungen der Klarsfelds nicht umsonst waren, sollte sich im September 1974 zeigen, als der Bundestag das deutsch-französische Zusatzabkommen zum Überleitungsvertrag ratifizierte, das auch als „Lex Klarsfeld“ bezeichnet wurde. Damit war der Weg frei, Ermittlungsverfahren gegen Beschuldigte einzuleiten beziehungsweise einstweilen eingestellte fortzuführen.
Es dauerte aber noch vier Jahre bis zur Fertigstellung der Anklageschrift. Schließlich umfassten Anklageschrift und Urteil 212 beziehungsweise rund 430 Seiten. Es fielen rund 18.000 Seiten Vernehmungsprotokolle, Zeugenaussagen, französische und ins Deutsche übersetzte Dokumente und ähnliches an. In 29 Verhandlungstagen wurde im Kölner Landgericht am Appellhofplatz verhandelt.
Auch nach der Urteilsverkündung konnten die Angeklagten das Gericht frei verlassen. Wie sich herausstellte, waren keine Haftbefehle angeordnet worden. Die Staatsanwaltschaft legte aber sofort Beschwerde ein, am 15. Februar 1980 erließ das Oberlandesgericht dann endlich drei Haftbefehle. In einer koordinierten Aktion wurden die Verurteilten an ihren Wohnorten verhaftet. Lischka und Hagen verbüßten zwei Drittel der Haftstrafe, in Hagen und Bochum. Der verurteilte ehemalige CSU-Bürgermeister Heinrichsohn kam nach Vorlegen zahlreicher ärztlicher Bescheinigungen nach rund zweieinviertel Jahren Haft frei. Die Reststrafe wurde zur Bewährung ausgesetzt. 1985 kamen Lischka und Hagen frei, Lischka lebte anschließend wieder in Köln und ist wie die beiden anderen inzwischen verstorben. Dass es überhaupt zur Verurteilung dieser drei Täter nach relativ kurzer Prozessdauer kam und die Haftstrafen abgesessen wurden, kann in der ansonsten an Skandalen nicht armen bundesdeutschen Nachkriegsjustizgeschichte mit Fug und Recht als ein „Meilenstein“ bezeichnet werden.
Der Autor ist Jurist und Leiter der Projektgruppe Recht (NS-Juristen nach 1945) im Rahmen der Kölnischen Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit e.V. Der Projektgruppe gehören Juristen, Historiker, Psychologen und Zeitzeugen an. Im Juni 2005 ist in Köln eine eintägige Veranstaltung mit dem Titel „Juristische Verfolgung von in Frankreich begangenen NS-Verbrechen durch bundesdeutsche Behörden“ geplant. Abends findet dann abschließend eine Podiumsdiskussion statt. Informationen zu Ort und Termin gibt es demnächst unter Tel.: 02133/26 93 82
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