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Als Harlem noch schillerte und brannte

DRAGSZENE Eine Compilation und ein Bildband erinnern an die queere Subkultur des Voguing

„Waren die Bälle nicht das Trainingslager für die Selbstvermarktung?“, fragt sich Judith Butler

VON JULIAN JOCHMARING

Der New Yorker Club Footsteps, irgendwann Mitte der Achtziger. Nur wenige Gäste harren trotz des längst hereingebrochenen Tages noch in dem für seine Afterhourpartys bekannten Laden im East Village aus. Die Tanzfläche wird zur Bühne für den ausladenden, verschnörkelten Tanzstil einer Gruppe afroamerikanischer Drag Queens. Sie versuchen sich gegenseitig im Kampf um die schönste Pose zu übertreffen.

Unter ihnen ist auch Paris Dupree, in der Szene für die nach ihr benannten „Paris Is Burning“-Bälle bekannt. Plötzlich greift sich Paris mitten im Tanz eine Modezeitschrift, schlägt sie auf und stoppt ohne aus dem Takt zu kommen in genau der Pose, die das Model auf der aufgeschlagenen Seite einnimmt.

Der Tanzstil, ein Hybrid aus der campen, überfeminisierten Ästhetik der 80er-Modemagazine und an Kung-Fu und und altägyptische Pharaonendarstellungen erinnernden Arm- und Handbewegungen, wurde schlicht Voguing genannt, nach dem Vogue-Magazin, das Paris Dupree als Vorlage gedient hatte. So zumindest lautet eine der Legenden um die Anfänge des Voguing.

Das Londoner Label Soul Jazz widmet der Hochphase der Drag- und Ballroomszene mit „Voguing and The House Ballroom Scene of New York City 1989–1992“ jetzt eine doppelte Retrospektive. Neben einer Koppelung mit den wichtigsten Disco- und Housetracks der Szene bietet ein opulenter Bildband die Fotos der Französin Chantal Regnault – viele bisher unveröffentlicht – und damit Einblicke in eine der schillerndsten Episoden der New Yorker Subkultur. Ein umfangreicher Essay des britischen Autors Tim Lawrence verfolgt die Geschichte der Dragkultur bis ins 19. Jahrhundert: 1869 fanden in der Hamilton Lodge die ersten Maskenbälle mit als Frauen verkleideten Männern statt.

Einen frühen Höhepunkt erreichen die Bälle in den zwanziger Jahren mit Veranstaltungen vor bis zu 6.000 Zuschauern im Madison Square Garden. Durch schärfere Gesetze gegen Homosexuelle und eine als Folge der Weltwirtschaftskrise sinkende Toleranz für jegliche Form von Hedonimus werden die Bälle immer weiter uptown Richtung Harlem verdrängt.

Erst in den Siebzigern erstehen sie von Neuem, treibende Kraft ist die afro- und lateinamerikanische Schwulen-, Lesben- und Transgendercommunity Harlems. Sie verbindet die Ballkultur mit einer neuen Form der sozialen Organisation: den sogenannten Houses. Die Houses sind formal wie eine Familie strukturiert: eine „Mother“, seltener auch ein „Father“, um die sich eine Gruppe von „children“ genannten Anhängern versammelt. Bekannte Houses sind das House of LaBeija, das House of Dupree und das House of Xtravaganza.

Die Houses sind ein schwules Gegenstück zu den Straßengangs in Harlem, die für die Ballkultur eine wichtige soziale Funktion erfüllen. Jugendliche, die wegen ihrer sexuellen Orientierung von ihren biologischen Familien verstoßen werden, finden dort einen Zufluchtsort. Häufig werden sie auch Opfer eines innerfamiliären Rassismus, der aus dem spannungsgeladenen Verhältnis von Afroamerikanern und Latinos entsteht. „Meine Familie lehnte mich ab, weil ich einen schwarzen Vater hatte und damit in ihren Augen kein richtiger Latino war“, erzählt Hector Xtravaganza. So entwickelt sich in der Dragszene ein differenziertes Verständnis für die komplexen Zusammenhänge von Diskriminierungsmechanismen wie Rassismus, Klassismus und Sexismus.

Unter den Houses beginnt bald eine sportliche Rivalität. Schon immer besaßen die Dragbälle einen Wettkampfcharakter, ab den siebziger Jahren entstehen aber reihenweise neue Kategorien. Ließen sich die Bälle bisher noch auf die platte Formel „Männer in Frauenkleidern“ reduzieren, werden nun alle Identitätsregister des Race-Class-Gender-Dreiecks durcheinandergewirbelt und von Punktrichtern in Bezug auf die „Realness“ ihrer Darstellung bewertet. In der „Butch“(Schlachter)-Kategorie konkurrieren homosexuelle Männer wie auch Frauen um die „maskulinste“ Darstellung, in Kategorien wie „Town and Country“, „Executive“ (Büroangestellter) und „Hollywood-Diven“ wird mit den Stereotypen des weißen, bürgerlichen Amerika gespielt. „Realness“ und Natürlichkeit entpuppen sich dabei als leere Zeichen, die immer nur auf eine Ähnlichkeit mit einem imaginären Idealbild verweisen.

Die Bälle finden meist in alten Theatersälen statt. Rund um die als Laufsteg dienende Bühnenfläche und auf den Oberrängen drängt sich die Anhängerschar der einzelnen Houses und feuert ihre Favoriten fanatisch an, die Atmosphäre erinnert an amerikanische Highschool-Sportveranstaltungen. Zwischen Tanzenden, Jury und Publikum werden ununterbrochen Blicke ausgetauscht – sie sind die Instanz, vor dem die „Realness“ der Inszenierung bestehen muss. Die berühmte Voguing-Geste der ausgestreckten flachen Hand spielt mit dem Verhältnis von Blicken und Macht: Sie dient den Tänzern als imaginärer Schminkspiegel zur Selbstvergewisserung, kann aber auch den Konkurrenten vorgehalten werden, um so Zweifel an deren „Realness“ auszudrücken.

Perfektioniert wird diese Geste von Willi Ninja. Ninja gilt als Begründer eines akrobatischeren, körperbetonteren Stil des Voguing. Der neue Tanzstil korrespondiert mit den härteren Rhythmen des House, die die von opulenten Streicher- und Bläserklängen getragenen Discostücke ablösen, die bis weit in die achtziger in den Clubs und auf den Bällen dominierten. Auf der Compilation stehen beide Stile nebeneinander: Ikonische Voguing-Hymnen wie MFSBs „Love Is The Message“ oder „Let No Man Put Asunder“ von First Choice stehen neben den rohen, skelettierten Housetracks von Masters At Work oder Armand Van Helden, die in den späten Achtzigern auf dem New Yorker House-Label Strictly Rhythm erschienen. Spätestens durch Madonnas Nr.-1-Hit „Vogue“ und seinem Videoclip von 1990 wird Voguing auch im Mainstream zum Thema. Madonna wird vorgeworfen, Voguing nur zu benutzen, ohne Bezüge zum oft armen Alltag der Queens herzustellen. „Wer es aus dem Ballroom in voller Montur in die U-Bahn schafft und ohne Blutfleck zu Hause ankommt, ist die wahre Realness-Queen“, sagt ein Protagonist in Jennie Livingstons Dokumentarfilm „Paris Is Burning“ von 1991. Viele Drag Queens verschulden sich durch den Kauf teurer Designeroutfits oder enden wie Venus Xtravganza als Prostituierte, um sich die Geschlechtsumwandlungen zu finanzieren.

Jugendliche, die wegen ihrer sexuellen Orientierung verstoßen werden, finden in den „Houses“ einen Ort

Stars wie Willi Ninja, Dorian Corey oder Avis Pendavis sind mittlerweile an den Folgen von Aids gestorben. Obwohl noch immer regelmäßig Bälle in New York und anderen US-Großstädten veranstaltet werden und aktuelle House-Produzenten wie Hercules & Love Affair oder Jessica 6 sich verstärkt auf den Sound und die Ästhetik der Voguing-Szene beziehen, klingen viele VeteranInnen resigniert.

In Gesprächen, die Regnault in den vergangenen zwei Jahren geführt hat, vertreten sie kleinbürgerlich-konservative Werte, sehnen sich nach den vergangenen Zeiten zurück und bewundern jene, die es außerhalb der Szene zu Geld, Erfolg und Status gebracht haben. Den poststrukturalistisch geschulten PoptheoretikerInnen, die die Szene einst voller Bewunderung beobachtet und analysiert haben, stößt dies natürlich bitter auf. „Am liebsten wäre ich ein verwöhntes, weißes Mädchen aus reichem Elternhaus“, gesteht Venus Xtravaganza in „Paris Is Burning“.

Die Literaturwissenschaftlerin Judith Butler, die mit ihrem performativen Verständnis von Geschlechtsidentität den theoretischen Überbau der Voguing-Rezeption geliefert hat, fragt sich angesichts solcher Aussagen, ob damit die heteronormative Matrix durch die Hintertür nicht eher bestätigt als aufgelöst wird. Waren die Bälle letztlich nichts anderes als Trainingslager für die perfekte Selbstvermarktung des spätkapitalistischen Ichs? So berechtigt diese Kritik ist, erscheint sie doch nur als Versuch weißer AkademikerInnen, die Deutungshoheit über eine Subkultur zurückzugewinnen, von der sie selbst kein Teil gewesen sind.

Die Fotografien Chantal Regnaults bieten eine alternative Lesart. Mal zitieren sie die glatte Ästhetik der großen Modemagazine, zeigen Femme Queens wie Pepper LaBeija oder Paris Dupree in Seidenbloussons und Pailettenkleidern optimal ausgeleuchtet vor leeren Hintergründen. Stärker aber sind die Bilder, die direkt auf den Bällen entstanden sind. Frei von der ethnografischen Distanz Livingstons fängt Regnault das Geschehen ein: die bange Erwartung beim Urteil der Jury, kurze Momente der Ruhe hinter der Bühne, die naive Freude der Prämierten. So ermöglichen sie einen verspielten, oberflächlichen Blick auf die Voguingszene, der von den theoretischen Debatten lange versperrt geblieben ist.

Various Artists: „Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1989–1992“ (Soul Jazz/Indigo)

Chantal Regnault/Stuart Baker: „Voguing and the House Ballroom Scene of New York City 1989–1992“, Soul Jazz Books, London, 2011, 208 S.

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