piwik no script img

Grübeln ohne Konsequenzen

Joschka Fischer lädt Schuld auf sich, nennt den Volmer- nun Fischer-Erlass und gibt die Last weiter. Verantwortlich seien frühere Erlasse – von Referenten

VON CHRISTIAN FÜLLER

Hat Joschka Fischer in der Visapolitik Fehler gemacht? Der Außenminister hat blankgezogen. „Da haben Sie Ihren Kritikpunkt“, gestand Joschka Fischer ein – noch ehe die Ankläger von Union und FDP im gestrigen Untersuchungsausschuss überhaupt danach fragen konnten. „Dafür muss ich die Verantwortung übernehmen.“ Er meint damit zwei Erlasse aus dem Jahr 1999. Sie lockerten die Prüfung von Visaanträgen. Und führten in Kiew (Ukraine) dazu, wie Fischer sagte, „dass kriminelle Netzwerke“ die neue Visapraxis zum Einschleusen von Menschen nutzen konnten.

War die liberale Visapolitik von Rot-Grün falsch? Für Fischer nicht. Er ist zu sehr Geopolitiker. „Es war richtig, die Grenzen aufzumachen“, führte er aus. Weil nur das den geschlossenen Gesellschaften Osteuropas die Chance gebe, sich zu verändern. „Schwarze Löcher in unserer Nachbarschaft, Länder, die sich nicht entwickeln, sind die größte Gefahr für unsere innere Sicherheit.“ Er mahnte die Opposition, die Politik Kohls und Genschers nicht zu verspielen. „Sie verabschieden sich von einer großen Vergangenheit der Öffnung Europas.“

Stürzt der Außenminister? Zunächst wird Joschka Fischer weiter zu wichtigen Terminen als Außenminister fliegen. Keiner erwartet einen Rücktritt, nicht einmal die CDU: „Fischer wird nicht zurücktreten, weil er für die Arithmetik der Koalition zu wichtig ist“, sagte Eckart von Klaeden. Fischer selbst dazu: „Wenn Sie meinen Rücktritt wollen, müssen Sie einen Antrag im Bundestag stellen.“ Ob Fischer allerdings die teils niveaulosen Fragen noch einmal durchsteht, ist fraglich.

Konnte sich Fischer erinnern? Fischer rekonstruierte die Details der rot-grünen Visapolitik „aus Bruchstücken von Erinnerung“, vor allem aber aus „einem intensiven Aktenstudium“. Er habe dabei „Dinge gelernt, die ich nicht für möglich hielt“ – nämlich wie viel Kontinuität in der Visapolitik zwischen der Regierung Kohl/Kinkel und der von Schröder/Fischer herrschte.

Welchen Erlass hat er persönlich zu verantworten? Der Außenminister überraschte, indem er den Volmer-Erlass, der wegen der prägnanten Formel „in dubio pro libertate“ (Im Zweifel für die Reisefreiheit) bislang im Mittelpunkt der Kritik stand, kurzerhand umtaufte. „Ich schlage Ihnen vor, ihn ‚Fischer-Erlass‘ zu nennen“, ging er gleich zu Beginn seines Zweistundenreferats in die Offensive. „Denn sobald ich meine Paraphe daruntersetze, ist es mein Erlass.“ Nur: Der Fischer-Erlass vom 3. März 2000 sei nicht das Problem. „Das entscheidende Instrument“ seien zwei frühere Erlasse vom 2. September und 15. Oktober 1999. Die Fachebene habe sie geschrieben, sagte Fischer, „sie haben meine Leitungsebene nicht erreicht“. Das hieße: Die kritischen Papiere haben Referenten verfasst.

Wie kamen die Problemerlasse überhaupt zustande? Das weiß der Chef des Außenministeriums auch nicht genau. „Ich habe lange gegrübelt, was die Bedeutung dieser Erlasse ist.“ Bei genauerer Betrachtung relativierte Fischer zunächst. Er schilderte, dass die Innenminister der Länder vom Septembererlass „in Kenntnis gesetzt wurden“, denn die so genannten Bonitätsprüfungen, die mit dem Papier erleichtert wurden, lagen eigentlich in deren Verantwortung. Und auch Otto Schilys Haus wusste Bescheid, da der Oktobererlass in enger Abstimmung mit dem Bundesinnenministerium erging. Die Botschaft dieser Volte heißt: Alle, sprich alle deutschen Sicherheitsminister, wussten, was in der Visapolitik gespielt wurde. Dennoch drückte Fischer die Schuld nicht weg: „Das fällt in meine Verantwortung.“

Wann hat er eingegriffen? Das sind die Fehler, die Fischer am deutlichsten benannte – und doch elegant zwischen sich und seinen Mitarbeitern portionierte. „Das ist mein Versäumnis, dass ich hier nicht früh genug informiert war“, sagte der Chef der Beamten des Außenministeriums. Fischer berichtete, dass relativ früh eine so genannte Sonderinspektion durchgeführt wurde. Auch deren Ergebnisse, bedauerte er, „haben mich nicht erreicht“. Konsequenz? „Ich bin für die Organisation meines Hauses verantwortlich.“ Wann Fischer ganz genau über die Erlasse und das Ausmaß ihrer Folgen im Bilde war, wurde nicht klar. Tatsache ist, dass schrittweise gegen die Missstände vorgegangen wurde. Ende Januar 2002 wurde der Oktobererlass ersetzt. Im März 2003 schließlich wies Fischer persönlich an, mit den problematischen Reiseschutzversicherungen grundsätzlich anders zu verfahren.

Wie lange müssen wir noch dumme Fragen ertragen? Möglicherweise lange. An sich ist geplant, den Ausschuss im Herbst zum Abschluss zu bringen. Doch der Vorsitzende Hans-Peter Uhl (CDU) warnte: „Vielleicht machen wir in der nächsten Legislaturperiode weiter.“

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen