Aufarbeitung DDR-Heime: Den Machtmissbrauch aufarbeiten
In der DDR wurden viele Kinder allein zur Kur geschickt – und machten teils traumatische Erfahrungen. Nun trafen sich Betroffene in Brandenburg.
Das war nicht immer so. Haus Dahmshöhe ist heute eine Erholungs- und Begegnungsstätte des Vereins Lebenshilfe. Bis 1990 war hier ein Kinderkurheim der DDR untergebracht. Der lange Weg durch den Wald macht physisch erfahrbar, was für viele institutionelle Einrichtungen wie Jugendheime, Internate oder Klosterschulen gilt: je abgeschiedener von der Außenwelt, desto weniger Kontrolle gibt es. Eine Welt für sich, die zu Machtmissbrauch führen kann.
Das einstige Kinderkurheim Dahmshöhe hat für viele ehemalige Kurkinder eine leidvolle Geschichte. Sie erfuhren hier oder in einem der anderen 154 staatlichen Kinderkurheime der DDR Demütigungen, Drill, Ess- und Toilettenzwang, hatten Angst oder wurden beschämt. In manchen Fällen kam es auch zu körperlicher oder sexualisierter Gewalt. Sie machten ähnliche Erfahrungen wie die Verschickungskinder der BRD, die sich in der Initiative Verschickungsheime e. V. zusammengeschlossen und in einigen Bundesländern bereits Anhörungen im Landtag, Anlaufstellen für Betroffene oder auch Studien bewirkt haben.
Die Gruppe der DDR-Kurkinder ist Teil der bundesweiten Initiative, ist aber mit ihrem Anliegen in Medien und Politik viel weniger präsent. „Es gibt hier eine strukturelle Ungerechtigkeit bei der Datenlage, in der Forschung und bei den Möglichkeiten der Wiedergutmachung“, sagt die Linken-Bundestagsabgeordnete Anke Domscheit-Berg, die als Kind dreimal in der DDR zur Kur war und aus dem nahen Fürstenberg gekommen ist.
Der eintägige Kongress am Reformationstag, in Brandenburg ein Feiertag, dient in erster Linie dem Erfahrungsaustausch, der Vernetzung und Formulierung von Perspektiven. Es gibt einen wissenschaftlichen Vortrag und drei Workshops, zwei davon therapeutisch ausgerichtet. Flyer für Telefonseelsorge und Traumabehandlung liegen überall aus. Genauso wie Schokoriegel und Äpfel.
Es hängt viel Trauma im Raum
Die rund 35 Teilnehmer:innen, darunter wenig Männer, sind ehemalige DDR-Kurkinder. Die, die kommen, haben unangenehme bis traumatische Erfahrungen gemacht. Wem es in der DDR-Kinderkur gut erging, und solche hat es sicher gegeben, ist hier nicht dabei. Die Ehemaligen sind auf der Suche nach Spuren, um ihre Erinnerungslücken aufzufüllen, um Gewissheit zu erlangen.
Aber sie möchten auch mehr herausfinden, wie sich die Kinderkurmaßnahmen im System DDR verorten lassen. Einige sind schon am Vorabend angereist und treffen sich beim Abendessen. „In welchem Heim warst du?“, die Frage wird häufig gestellt. „Ich weiß, dass da etwas Schlimmes war, aber ich komme da nicht ran“, sagt eine Teilnehmerin. Es hängt an diesen anderthalb Tagen viel Trauma im Raum, mental und verbal. Der Umgang miteinander ist herzlich, geradezu kurgerecht. Eine Traumatherapeutin ist als Ansprechpartnerin vor Ort.
Etwa acht der Anwesenden sind als Kinder im Kinderkurheim Dahmshöhe gewesen. Als die heutige Leiterin der Lebenshilfe eine Führung durchs Haus anbietet, das nach der Wende einen Neubau bekam, zögern einige. Schon die Anfahrt hatte ihnen zugesetzt, und die Wiederbegegnung mit dem Ort, mit dem sie unangenehme oder schmerzhafte Gefühle verbinden, ist für manche schwer auszuhalten. Als die Gruppe im Keller angelangt ist, muss Katrin Lukoschus an die frische Luft. „Du bist mir eine“, sagt Diana Mehmel, „dass du dich überhaupt auf die Tour eingelassen hast.“ Lukoschus steigt später mit Traumatherapeutin noch einmal nach unten.
2,6 Millionen Kinderkuren in der DDR
Mehmel und Lukoschus gehören zum fünfköpfigen Betroffenenrat, der ehrenamtlich die Gruppe der DDR-Kurkinder koordiniert und die Tagung mit etwas finanzieller Unterstützung der Beauftragten des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur organisiert hat. Mehmel und Lukoschus sind nicht zum ersten Mal seit ihrer Kinderkur wieder in Dahmshöhe – 2022 statteten sie dem weitläufigen Anwesen einen gemeinsamen Besuch ab, der schmerzhafte Erinnerungen an sexualisierte Gewalt durch den ehemaligen Heimleiter hochholte. Die taz begleitete sie auf dieser Reise, der Kontakt zur Lebenshilfe entstand. „Der liebevolle Empfang heute ist ein wohltuender Kontrast“, sagt Mehmel.
Beim Besuch 2022 war auch die Historikerin Julia Todtmann dabei, die als Historikerin zum Kinderkurwesen der DDR forscht und das Kinderkurheim Dahmshöhe wegen besonders vieler negativer Treffer als Fallbeispiel untersuchte. Sie stellt beim Kongress die Ergebnisse ihrer Masterarbeit vor. 2,6 Millionen Durchläufe von staatlichen Kinderkuren habe es in der DDR gegeben. Das entspreche im Verhältnis in etwa den Zahlen der Kinderverschickung West. Auch die oft negativen Erfahrungsberichte der Kurkinder ähneln sich. An einem Ost-West-Vergleich arbeitet Todtmann derzeit für eine erweiterte digitale Veröffentlichung ihrer Masterarbeit.
Beim Kongress dabei ist auch die Erziehungswissenschaftlerin Maria Birnstiel, die für ihre Masterarbeit die Zielsetzungen des Kinderkurwesens aus pädagogischer Sicht untersucht hat – zwei Masterarbeiten sind ein Anfang, aber bisher alles, was es zu dem Thema von wissenschaftlicher Seite gibt. Da ist noch viel Forschungsbedarf. Darin sind sich auch die Teilnehmer:innen des Workshops zu Fragen der „Forschung und Perspektiven“ einig. So war zum Beispiel Gewalt gegen Kinder in der Erziehung laut DDR-Verfassung von Anfang an verboten, anders als in der BRD, wo erst in den 1970er Jahren Prügel in der Schule verboten und 2000 das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankert wurden.
„Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensfreude“
Dennoch war die Praxis, sagen Todtmann und Birnstiel, nicht gewaltfrei. Lag es am eklatanten Fachkräftemangel, an der schlechten Ausstattung und ständigen Überforderung? Oder am Menschenbild, das Kinder als defizitäre Wesen betrachtete, die es zu formen galt? Und wie weit reichen die eigentlich ideologischen Wurzeln dieser Pädagogik zurück? Vor allem in der Nachkriegszeit hatten die physische Gesundheit und nicht das seelische Heil des Kindes im Fokus gestanden – die Parole „Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Lebensfreude für den Sozialismus“ behielt weit darüber hinaus ihre Gültigkeit.
Mit der Lebensfreude war es in den Kinderkurheimen nicht weit her. Katrin Lukoschus hat in der Nacht vom ehemaligen Heimleiter geträumt. Sie befindet sich seit Langem in therapeutischer Behandlung. Was ihr die Trauma-Aufarbeitung gebracht habe, wird sie von einer Kongressteilnehmerin gefragt. „Ich verstehe mein eigenes Verhalten besser und kann gegensteuern“, antwortet sie. Die Konfrontation habe ihr geholfen, diesen Ort zu erkennen und in die Traumaarbeit zu integrieren. „Öffnet euch im Erzählen!“, schreibt sie am nächsten Tag in der Facebook-Gruppe.
Lukoschus und Mehmel hatten mithilfe der Opferhilfe Sachsen beim Fonds für Opfer sexueller Gewalt einen Antrag auf Wiedergutmachung gestellt. Er wurde abgelehnt. Kein Einzelfall, wie die Linken-Abgeordnete Domscheit-Berg durch eine Kleine Anfrage an den Bundestag in Erfahrung gebracht hat. Finanzielle Hilfe gibt es nur dort, wo es zwischen Land und Institution, in der sexualisierte Gewalt stattgefunden hat, eine Vereinbarung gibt. Für die ehemaligen staatlichen Kinderkurheime gibt es jedoch keinen Rechtsnachfolger, insofern auch keine Vereinbarung. „Insofern sind die ehemaligen DDR-Kurkinder bei sexualisierter Gewalt de facto von Wiedergutmachung ausgeschlossen“, sagt Domscheit-Berg.
Erst vor etwa fünfzehn Jahren begann man, die Missstände in den Kinderheimen der DDR aufzuarbeiten, immer etwas zeitversetzt zu Einrichtungen der BRD; es folgten: die Jugendwerkhöfe, Zwangsadoptionen, Kinderkurheime und Wochenkrippen, DDR-eigene Thematiken, über die noch viel herauszufinden ist. Fundierte Forschung, eine Vollzeit-Koordinationsstelle für das Kinderkurwesen in der DDR, Zugang zu Wiedergutmachung und eine Aufklärung über Spätfolgen sind Forderungen, der der Betroffenenrat ausarbeiten will.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“