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Die WahrheitDer Übriggebliebene

Wie der Bundesendzeitminister Volker Wissing nach dem Bruch der Ampel-Koalition aus einem schweren Traum erwachte und plötzlich klar sah.

Hat sich selbst die Augen geöffnet: Volker Wissing Foto: Reuters

Versonnen betrachtete Volker Wissing seine Unterschrift. War ihm je aufgefallen, dass seine Ini­tialen VW lauteten? Wo er doch Autominister war! Und zum Glück bleiben durfte: Bundesminister für Digitales und Verkehr, in Diensten der deutschen Automobilindustrie.

Hauptstadtlicht glitt trübe durch die Scheiben des Berliner Ministerbüros, in dem er saß, weil eine Unterschrift wie die, die vor ihm lag, den Austritt aus der FDP besiegelt hatte. Das, hatte er mitgeteilt, sei er seinem Pflichtbegriff schuldig. Nicht einfach den Bettel hinzuwerfen, nur weil eine Ampelkoalition platzte, in der er als Freier Demokrat nicht mehr bleiben dürfen sollte. VW, Ampel – wie war das alles glücklich eins gewesen!

Und doch hatte er, Wissing, auf einmal das Gefühl gehabt, nicht mehr er selbst, ja mit Vollgas aus sich herausgebrummt zu sein. „Verkehrsminister in Diensten der deutschen Automobilindustrie“ – wo blieb denn da der Amtseid? War er denn ein paar Ärschen vom Industriekapital dicker verpflichtet als dem kleinen Mann, der kleinen Fußgängerin auf der Straße?

Von der Wirklichkeit der Vorgänge noch immer nicht überzeugt, schüttelte der neue Doppel-, weil inzwischen auch Justizminister den Kopf. Dass er sich plötzlich solche Fragen stellte! Wo die kleinen Leute ihm seit einem Vierteljahrhundert ganz egal gewesen waren, ja wirklich restlos gleichgültig, solange sie nur seinen Müll wegbrachten, seine Schuhe reparierten und ihm Wurst verkauften; und er eben in der Freien Demokratischen Partei war.

Kampfbegriff im Kopf

25 Jahre lang, sein halbes Leben hatte er sich für die anderen eingesetzt, die vom Vollkaskostaat Benachteiligten, die Porsche-Händler, Fabrikantinnen und Hoteliers, die Leistungsträger, Entscheiderinnen und beschlipsten Anpacker – und kaum hatte er die Unterschrift geleistet, die ihn zum Parteilosen machte, formten sich Kampfbegriffe wie „Lobby“ in seinem Kopf, und er, Wissing, Christenmensch und Calvinist, hätte vor Gott geschworen, dass ihm das völlig neu war: die Erkenntnis nämlich, dass es Leute gab, die am Souverän vorbei ihr Süppchen kochten, Ministern die Gesetze schrieben und grundvernünftige Dinge wie ein Tempolimit auf Autobahnen blockierten. Und nur „Standort“ krähen mussten, damit er, Wissing, weich wurde, gegen wirklich jede Vernunft!

Er wartete, halb misstrauisch, halb ängstlich, doch Übelkeit blieb weiter aus. Ein neues Gefühl, immer noch: dass der Gedanke an „Vernunft“ ihn, Wissing, nicht zum Kotzen brachte. So berauschend blieb die Erkenntnis, dass sie ihn schwindlig werden ließ; seine Hand suchte die Tischkante, und als die Welt nicht mehr wackelte, wollte er es wirklich wissen, sich sicher sein. Und dachte: „Umverteilung.“

Nichts geschah. Sein Puls ging ruhig, sein Atem gleichmäßig, kein Ausschlag, keine Krämpfe. Den dritten Versuch unternahm er laut, verwegen gleich im ganzen Satz: „Die private Krankenversicherung steht für Zweiklassenmedizin; wir brauchen die solidarische Bürgerversicherung.“

Wörter wie Rätsel

Das knappe Dutzend Wörter hing im Raum. Es klang, wie ein Bergquell klingt, munter, gesund und richtig, und es war ihm, Wissing, ein kosmisches Rätsel, wie er derlei bislang für Bolschewismus und Eingriff in die Freiheit und/oder Leistungsgesellschaft hatte halten können: Alle Bürger zahlten nach ihren Fähigkeiten ein und bekamen nach ihren Bedürfnissen heraus, und Gesundheit war etwas, was Politik zum Wohle aller anging und nicht ein scheiß Pharmakartell zu seinem eigenen!

Und wie zur Bestätigung rief er im Blumenladen an und ließ seiner Putzfrau rote Rosen schicken, und im Gefühl, dass der Knoten wirklich geplatzt und alles verlässlich zum Besten bestellt sei, wischte er zur Nummer vom Zahnarzt, der schlimmen Plombe links im letzten Backzahn unten endlich Herr zu werden.

Der hatte aber die Nachrichten verfolgt. Volker Wissing bekam einen Termin im August, „wie jeder andere auch“. Der Preis der Unfreiheit, dachte es in ihm, und dass die Ibuprofen alle waren, wunderte ihn schon nicht mehr.

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8 Kommentare

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  • Die FDP liegt bei 3% , und die wissing nicht woran das liegt.

  • Eine sehr nette Beschreibung von VW...



    Ob sich Menschen wirklich verwandeln?



    Ich lasse ihm ein gutes, nämlich aus der seiner bisherigen Partei getreten, und sich selbst treu geblieben zu sein.



    Die FDP braucht wirklich niemand in diesem Land!

  • Der Mister für Infrastruktur und Verkehr gehört in die CSU, nur deshalb ist er ausgetreten (um dort einzutreten?). Auf Wissing hätte man am leichtesten verzichten können, aber ausgerechnet er bleibt.

    • @Narrenfell:

      Die CSU (also ein Juniorpartner) schickte auf den Posten aber auch immer Personal, auf welches sie leicht hatte verzichten können ... Und daß sich Scholz mit diesem Ressort, welches bislang jeder Regierung als letztwichtigstes gegolten haben mußte, mit dessen Besetzung kein Kanzler der letzten Jahrzehnte je etwas zu tun gehabt hatte, nicht jetzt noch eine Baustelle ans Bein binden wollte ...

      • @dtx:

        Naja, Dobrindt war theoretisch hochkarätig, wurde aber in der Tat vor dem offenkundigen Scheitern zeitig abgezogen.



        Besser auf Lindner schauen: der beging den Fehler, sich zur Auto-Retro-Partei zu verzwergen. Der dürfte auch Wissing entsprechend eingeklemmt haben. Wissing hat zumindest begonnen, auch mal an die Bahn zu denken, anders als die CSU-Arbeitsverweigerer und GeldnachBayernsauger.

  • Ich möchte Volker Wissing wirklich ehrenwerte Motive unterstellen (was mir bei Lindner kaum gelänge). Gerade dient er, unter persönlichen Opfern: dafür musste er seine Partei vorerst verlassen.



    Und Wissing weiß aus eigener Erfahrung, dass eine Ampel auch funktionieren kann. Ohne eine Lindner-/Kubicki-/Schäffler-Ideologie nämlich.

    Er sollte besser gelegentlich offen auspacken, wie Lindner ihn zum Retro-Auto-Trara drängte. Das wäre meine Vermutung. Und jetzt noch die Bahn auf die Schienen setzen.

    • @Janix:

      Die Bahn wollte heuer, um die Gleisbauarbeiten zwischen Berlin und Hamburg beauftragen zu können, noch 2,5 und im nächsten Jahr 16 Milliarden. Ob das was wird, ohne Haushalt?

      • @dtx:

        Da sollte man die FDP und/oder die Union ruhig in die Pflicht nehmen, nachdem genau die das verbockt haben, auch an der Reparatur mitzuwirken. Sonst beim Wahlkampf das einsetzen.