: Bewohner:in gesucht
Die brandenburgische Grenzstadt Guben will Menschen mit einem kostenlosen Probewohnen zu sich locken. Eine Geschichte über Großstadtflucht und Willkommenskultur
Aus Guben Katharina Wulff (Text) und Dann Pettersson (Fotos)
Neuerdings steht ein Gartenzwerg vor Anika Franzes Wohnhaus, durch ihren Garten fließt ein kleiner Bach, und aus ihrem Wohnzimmerfenster blickt sie auf eine Kleingartenanlage. In ihrer Wohnung herrscht zwar noch Umzugschaos, doch Franze fühlt sich wohl in ihrem neuen Zuhause: der ostdeutschen Kleinstadt Guben.
Dabei schlägt ihr Herz eigentlich für Berlin-Friedrichshain. 37 Jahre lang war der Stadtteil Franzes Heimat. „Berlin ist Teil meiner Genetik“, sagt sie. Ihre Familie lebt seit fünf Generationen in Friedrichshain, Franze selbst ist dort geboren. Doch immer öfter wurde ihr die Großstadt „zu viel“, wie sie sagt. Zu viel Lärm, zu viel Dreck, zu viel Elend.
An einem Morgen im Frühjahr 2024, erzählt Franze, wollte sie wieder einmal dem Trubel der Großstadt entkommen. Also ist sie ins Auto gestiegen und raus nach Brandenburg gefahren. „Dahin, wo es kein Handynetz mehr gibt und nur noch der Radiosender Antenne Brandenburg Empfang hat“, erzählt sie. Dort hörte sie zum ersten Mal von einer Aktion der brandenburgischen Kleinstadt Guben: Ein Probewohnen, bei dem alle Interessierten mehrere Wochen in Guben unterkommen können.
Anika Franze diktierte sich die E-Mail-Adresse in ihr Handy, unter der sie sich einige Wochen später meldete. Immerhin ist das Probewohnen umsonst, nur 50 Euro für die Nebenkosten braucht es. Und ein bisschen Mut vielleicht.
Mit dem Probewohnen kämpft die Stadt Guben, im östlichsten Zipfel von Brandenburg gelegen, gegen ein jahrzehntelanges Verlassenwerden. Seit 1990 hat sich Gubens Einwohner:innenzahl auf 16.000 halbiert, und auch für die nächsten Jahre gehen Prognosen von einem massiven Bevölkerungsrückgang aus.
Gubens Verlassenwerden begann genau genommen schon nach dem Zweiten Weltkrieg, als die Stadt ihren historischen Stadtkern an Polen abtreten musste. Seitdem trennt die schmale Neiße die beiden Hälften, die lange ein Ganzes bildeten: Guben in Deutschland, Gubin in Polen.
Hüte für den ganzen Osten
Zu DDR-Zeiten florierte Gubens Planwirtschaft. Die Stadt fertigte Hüte für den ganzen Osten, war Sitz eines einflussreichen Chemiefaserkombinats. „Perle der Niederlausitz“ wurde sie liebevoll genannt.
Doch dann fiel die Mauer, und aus der einstigen Perle wurde eine Wendeverliererin, deren Bewohner:innen ihr Glück im Westen suchten. „Guben hat sich aufgeblasen wie ein Luftballon und wird schrumpfen wie ein Luftballon“, meinte der Stadtplaner Heinz Nagler, der sich vor Jahren mit der Stadt beschäftigt hat.
Er sollte recht behalten. Gubens Sterberate ist mittlerweile viermal so hoch wie seine Geburtenrate. Schon jetzt liegt das Medianalter bei knapp 58 Jahren, in den nächsten Jahren wird es weiter steigen. Die Spuren sind in der Stadt überdeutlich zu sehen: leere Straßen, leere Fabrikgelände, leere Jugendzentren. An Gubens glanzvolle Zeiten erinnern zahlreiche Villen, die den Tuch- und Hutfabrikanten der Stadt gehörten. Mit ihren tadellos verputzen Fassaden und stolzen Säulen ragen sie neben mittlerweile verlassenen Wohnhäusern und leerstehenden Büroräumen empor.
An einem Abend im Oktober ist diskutieren die Gubener:innen wieder einmal, wie sie ihre Innenstadt beleben können. Bei der Einwohner:innenversammlung im Saal der alten Tuchfabrik sind viele graue Schöpfe zu sehen, einer gehört Gubens Bürgermeister Fred Mahro.
Bevor Mahro anzugtragender CDU-Politiker wurde, war er Elektrotechniker und Gewerkschafter. „Ich arbeite sieben Tage die Woche – auch im Schlaf“, sagt er über sich. Mahro ist einer, der Hände schüttelt und Kaffee ausgibt. Guben, erzählt Mahro, sei so verlassen, dass am Stadtrand Wohnhäuser abgerissen werden müssten, nur um den Stadtkern wiederzubeleben. „Uns fehlt eine ganze Generation“, sagt er. Das Probewohnen soll diese Lücke füllen.
Um einen Platz in Guben zu bekommen, musste sich die Friedrichshainerin Anika Franze bewerben. Ausgewählt wurden die Kandidat:innen auch danach, wie sie sich während ihres Aufenthalts für die Stadt engagieren wollten. „Mehrwert für Guben“ nennt Kerstin Geilich das. Sie leitet das Gubener Tourismus- und Marktingbüro, das das Probewohnen organisiert. Gemeinsam mit ihrer Tochter Linda sichtete sie 38 eingegangene Bewerbungen. Trotzdem bemühten sich Mutter und Tochter Geilich persönlich um Anika Franze. „Ich hatte das Gefühl, ich bin hier nicht mehr anonym, so egal wie in Berlin“, sagt Franze.
Die Stadt Guben liegt an der polnischen Grenze und hatte Anfang des Jahres
, die Zahl sinkt stetig. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Stadt geteilt, die polnische Hälfte heißt Gubin und liegt auf der anderen Seite der Neiße. In der DDR trug sie den Namen Wilhelm-Pieck-Stadt Guben, bekannt war sie durch die Produktion von Hüten aus Chemiefasern.Das Projekt „Probewohnen in Guben“ gibt es seit diesem Jahr. 38 Bewerbungen sind in den letzten Monaten bei der Gubener Willkommensagentur eingegangen – dazu kamen über 100 Anfrage für Wohnungen und Jobs in Guben. 17 Parteien bekamen schlussendlich die Zusage, im Sommer zwischen zwei und drei Wochen in der Kleinstadt probezuwohnen.
Insgesamt fünf Wohnungen mit zwei und drei Zimmern hat die Gubener Wohnungsbaugesellschaft dafür zur Verfügung gestellt. Die Teilnehmenden wurden aufgefordert, sich während ihrer Zeit in Guben für die Kleinstadt zu engagieren oder ein Praktikum zu machen. Außerdem gab es Gutscheine für Kultur- und Freizeitangebote in der Region.
Andere Projekte in ostdeutschen Städten: Eberswalde verloste 2018 eine kostenlose Probewoche, Frankfurt (Oder) folgte im Herbst 2021, ebenso die sächsische Stadt Görlitz. Der Görlitzer Aufruf richtete sich insbesondere an Menschen, die zu Klimaneutralität forschen. Alle drei Städte leiden seit der Wende wie Guben unter Bevölkerungsschwund.
Wie in einem Groschenroman
Anfang Juli zog sie als Erste von insgesamt 30 Probewohner:innen nach Guben. Als sie mit ihrer Gitarre im Gepäck in der idyllische Kleinstadt ankam, habe sie sich wie in einem Groschenroman gefühlt. Ein „Abenteuer“ sei das gewesen. An ihrem ersten Tag als Gubenerin auf Probe wurde sie von Regen und einer Jahresration Snackwurst des ortsansässigen Bifi-Konzerns begrüßt. In den Wochen darauf saß sie oft mit einem Bubble-Tea am Entensteig, um die grüne Idylle zu bewundern. Freitagabends traf sie die anderen Probewohnenden und Bürgermeister Fred Mahro zum Stammtisch. Kurzum: Anika Franze fühlte sich wohl. Aber langfristig hier bleiben?
Ende Juli zog eine weitere Probewohnerin allein nach Guben, die auf den ersten Blick viel mit Anika Franze gemeinsam hat, sich sogar einen Vornamen mit ihr teilt, und trotzdem eine ganz andere Erfahrung machte. Annika Harloff kommt genau wie Anika Franze aus dem Berliner Osten, aus Lichtenberg, sie probiert gern Neues, ist abenteuerlustig.
In Berlin ist Harloff Teil eines Kleinkunstkollektivs, auch Zauberei und Burlesque gehört dazu. Jahrzehntelang hat sie in verschiedenen Teilen der Welt gewohnt: Hongkong, Singapur, Serbien und zuletzt in einer Künstlerresidenz in Portugal. Warum also nicht auch Guben, dachte sie. Harloff verdient ihr Geld als Karriereberaterin und kann remote von überall arbeiten.
Doch ihr Start in Guben missglückte: Weil sie kein Auto hat, musste sie eine ganze Strecke mit ihrem Koffer zur Probewohnung laufen. Die Busse fahren in Guben oft nur einmal die Stunde, die letzte Fahrt ist vor 20 Uhr. „Abends werden in Guben die Bürgersteige hochgeklappt“, sagt Annika Harloff. „Playmobiltown“ nennt sie die malerische, aber oft menschenleere Innenstadt. Sie scheut sich nicht davor, neue Menschen kennenzulernen, doch zu den Gubener:innen fand sie keinen richtigen Zugang. Die Menschen seien zwar freundlich, aber auch engstirnig, sagt sie. Sie habe nicht das Gefühl gehabt, in Guben auf eine starke Willkommenskultur zu stoßen.
„Was soll ich hier in Guben machen?“, fragte sich Harloff. Restaurants seien mittags zu, und ohne Auto komme man auch nicht in den Genuss der umliegenden Natur. Sie vermisste Berlins Diversität, Offenheit und Experimentierfreude. „Ich brauche Vielfalt in meinem Leben“, sagt sie. Ursprünglich wollte sie drei Wochen bleiben, erst verkürzte sie auf zwei Wochen, und schlussendlich blieb sie nur fünf Tage. „Guben lebt in dem, was es mal war“, sagt sie.
Dabei ist Bürgermeister Fred Mahro sehr daran gelegen, dem heutigen Guben wieder zu altem Glanz zu verhelfen. „Lithium“ lautet sein Schlüsselwort dafür. Und tatsächlich hat der Lithium-Hersteller RockTech angekündigt, ab 2027 Lithiumhydroxid unter anderem für E-Auto-Batterien in Guben herzustellen. Auch der Bifi-Hersteller, der allen Probewohner:innen einen kleines Präsent gemacht hat, baut seit Anfang des Jahres ein Werk in Guben. Nachdem letztes Jahr Gubens größter Arbeitgeber, der Kunstfaserhersteller Trevira, zunächst 100 Mitarbeiter:innen entließ und im September nochmals 210 Entlassungen ankündigte, könnte nun ein kleiner Aufschwung für die Wirtschaft folgen.
So lange bleibt Gubens Sorgenkind die Innenstadt, in der überall „Zu vermieten“-Schilder an den Scheiben kleben. Immerhin hat dort, mitten im Leerstand, vor einigen Monaten ein neues Geschäft geöffnet: ein Friseursalon mit dem Namen Barber Prinz – direkt neben der Touristeninformation, in der Kerstin und Linda Geilich arbeiten. In großen goldenen Lettern prangt der Name über dem Salon. „Es läuft gut mit dem Geschäft“, erzählt Inhaber Ahmad Al-Saleh. Seit mittlerweile neun Jahren lebt er in Deutschland, inzwischen ist er deutscher Staatsbürger.
Als er von dem kostenlosen Probewohnen hörte, fragte er nebenan bei der Touristeninformation nach, aber es sei schon zu spät gewesen: Die handverlesenen Plätze waren schon weg. Dabei hätte Al-Saleh eine Wohnung gut gebrauchen können, seine bisherige Suche sei nicht so ganz einfach gewesen. Im Zentrum von Guben sei kein Platz, habe man ihm gesagt. Ein Wohnungsdeal, dem aus seiner Sicht nichts im Wege gestanden hätte, sei kurzfristig wieder geplatzt.
Auch mit der Gewerbelizenz habe er so seine Schwierigkeiten gehabt, erzählt er. Obwohl das Ladenlokal schon vorher ein Angelshop gewesen war, also schon als Gewerbe benutzt wurde, habe er noch allerlei nachbessern müssen, als er seinen Salon eröffnete. Ahmad Al-Saleh lächelt und zuckt mit den Schultern.
Geht man den Kopfsteinpflasterweg an Ahmad Al-Salehs Barbershop weiter, dauert es keine fünf Minuten bis nach Polen. Nur die Schilder lassen erkennen, dass am Ende der schmalen Brücke aus dem deutschen Guben das polnische Gubin wird. Doch seit Bundesinnenministerin Nancy Faser im September Kontrollen an allen deutschen Außengrenzen anordnete, fährt die Polizei auch hier an dieser unauffälligen Grenze verstärkt Streife. Ahmed Al-Saleh erzählt, dass die Polizei ihn kürzlich zum ersten Mal an der Grenze kontrolliert habe. Die Polizist:innen hätten ihn drangsaliert und einen Müllsack aus dem Laden, den er im Auto hatte, in seinen Kofferraum ausgekippt.
Sofort im Anschluss betont er, er habe ansonsten nur gute Erfahrung mit der Polizei gemacht und fühle sich grundsätzlich wohl in Guben. Doch ein bisschen ratlos lässt ihn die Situation schon zurück. Zwar nehme er wahr, dass die AfD in Guben wie fast überall in Brandenburg immer stärker werde, doch wenn AfDler über die Schwelle seines Barbershops treten, seien sie immer freundlich, erzählt Al-Saleh. „15 Euro kostet hier ein Haarschnitt – das ist unschlagbar“, sagt er und grinst.
Ähnlich wie in anderen Grenzregionen im Osten Brandenburgs holte die AfD bei der Landtagswahl in Gubens Wahlkreis Spree-Neiße I fast 40 Prozent der Stimmen. Ausgerechnet Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke von der SPD verlor hier sein Direktmandat gegen den AfD-Kandidaten Steffen Kubitzki.
Schon zuvor war Guben in die Schlagzeilen geraten: 1999 hetzten hier Neonazis den Algerier Farid Guendoul so lange durch die Kleinstadt, bis er durch eine geschlossene Glastür sprang und schließlich verblutete. 2020 schlugen und traten Vermummte im Stadtpark auf vier Geflüchtete ein. Eine Woche nach dieser Tat drängte ein Rechtsextremist mit seinem Auto drei Geflüchtete vom Fahrrad.
Als 2022 etwa 700 Geflüchtete aus der Ukraine und anderen Ländern nach Guben kamen, fühlte sich die Stadt wie viele andere Kommunen überfordert. Schulen und Kitas hätten nicht genügend Kapazitäten, die medizinische Versorgung sei am Limit, sagte Bürgermeister Mahro damals. Davon, dass Menschen aus der Ukraine Teil von Gubens Wiederbelebung sein können, ist keine Rede. Dabei können Ukrainer:innen anders als Geflüchtete aus anderen Ländern bei gültiger Aufenthaltserlaubnis in Deutschland arbeiten.
Die Heimkehrer-Offensive
Doch Fred Mahro hatte damals schon andere Pläne, wie das Problem der „fehlenden Generation“ in Guben zu lösen sei. Bei der „Offensive“, wie Mahro es nennt, waren auch Kerstin und Linda Geilich dabei, die bereits 2018 die Willkommensagentur „Guben tut gut“ gegründet hatten.
Vor allem ehemalige Gubener:innen nahmen sie in den Blick, sie starteten Aufrufe auf Social Media: Wohin seid ihr gezogen, und was können wir tun, damit ihr heimkommt? Gemeinsam mit dem Bürgermeister fuhren sie in ostdeutsche Großstädte wie Dresden, Berlin und Greifswald, wo sie fortgezogene Gubener:innen verortet hatten. In Berlin lud Mahro die ehemaligen Gubener:innen auf einen Weihnachtsmarkt zu einem Getränk ein.
Irgendwann wurde aus der Heimkehrer-Offensive eine größere Idee: das Probewohnen. Warum nicht alle einladen, nach Guben zu kommen? Und zwar in der Probezeit kostenlos?
Eberswalde, Frankfurt (Oder) und Görlitz hatten schon ähnliche Projekte gestartet, das Geld dafür kommt aus Strukturmitteln des Landes Brandenburg. Als das Probewohnen in diesem Sommer überregional Wellen schlug, traten sich in Guben diverse Fernsehteams und Zeitungsreporter auf die Füße. Die alteingesessenen Gubener:innen wunderten sich über die Aufmerksamkeit für ihre Kleinstadt: „Hier will doch eh niemand hin“, heißt es, wenn man die Leute auf der Straße fragt.
Doch das stimmt nicht ganz. Zwar war Probewohnerin Annika Harloff, als sie nach fünf Tagen wieder zurück in ihre Wohnung in Berlin-Lichtenberg zog, froh, wieder zu Hause zu sein. Anika Franze hingegen fand in Guben, was ihr in der Großstadt fehlte: Ruhe.
Nach Ablauf der drei Probewochen musste sie eine neue Wohnung suchen, doch die Umstände machten es ihr leicht: Zwölf Wohnungen hat sie sich in Guben angeschaut, alle bezahlbar, in alle davon hätte sie einziehen können. Menschen in Berlin – und auch der Barbershop-Inhaber Ahmad Al-Saleh – können davon nur träumen.
Schließlich entschied sich Franze für eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus, das etwas wie ein Puppenhaus anmutet: Blumen auf dem Sims, buntes Treppenhaus, Fachwerkbalken. Ein kleiner Bach vor dem Haus. Gartenzwerg. Seit Anfang Oktober kümmert sie sich um die Einrichtung ihrer Wohnung. Läuft etwas nicht nach Plan, fährt sie rüber nach Polen und kauft dort Kuchen und Süßigkeiten. Aber manchmal hilft auch polnischer Kuchen nichts. Dann sitzt Anika Franze allein in ihrer neuen Maisonettewohnung mit Fachfachwerkbalken, vergräbt den Kopf in den Händen und weint. Weil alles neu und überfordernd ist.
Ob sie in dieser Stadt alt werden möchte, weiß sie noch nicht. Ihre Wohnung in Berlin hat sie erst einmal behalten.
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