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Die Frau mit den Bücherstapeln

Einmal im Monat trifft sich Mascha Jacobs mit Gästen, um für ihren Podcast „Dear Reader“ über Literatur zu sprechen. Klaus Theweleit, Tijan Sila, Maren Kames und Eva von Redecker waren schon dabei. Es sind gute Gespräche. Ein Porträt

Podcasterin Mascha Jacobs empfängt ihre Gäste in ihrer Berliner Altbau­wohnungFoto: Sophie Kirchner

Von Jolinde Hüchtker

Mit Elfriede Jelinek die Nacht durchtanzen, im Berghain oder im Tresor, jedenfalls in einem richtigen Berliner Club, dunkel, eng. Diese Szene erschien Mascha Jacobs vor einigen Jahren im Traum. Vielleicht würde sie die österreichische Literaturnobelpreisträgerin im Morgengrauen noch zu sich nach Hause einladen, ihr am Küchentisch Sekt und Kirschkuchen anbieten, wie ihren anderen Gästen. Das Aufnahmegerät anschalten, nach Lieblingsbüchern fragen. Bei Jacobs waren schon so einige Literaturstars zu Gast, Jelinek war noch nicht dabei, aber träumen darf man ja wohl.

Käme Jelinek eines Tages tatsächlich zu Besuch, liefe sie in Berlin die Treppen eines Pankower Altbaus hinauf, in dessen Hausflur langsam die Farbe von den Wänden blättert. Und dann säße Mascha Jacobs ihr an der knallgelben Plastiktischdecke gegenüber, so, wie Jacobs jetzt mir gegenübersitzt: im Jeanshemd, der Blick fest. Seit mehr als siebzig Folgen lädt Jacobs für ihren Podcast „Dear Reader“ Au­to­r*in­nen ein. Sie spricht mit ihnen über das Lesen und darüber, wie es sie verändert. Das funktioniert so gut, weil Jacobs ihre Gäste verehrt.

Wenn Jacobs zu Beginn einer Podcastfolge einen Gast vorstellt, gleicht das oft Liebesbriefen. „Ich bin ein echtes Fangirl“, sagte sie über den Kulturtheoretiker Klaus Theweleit. Den Schriftsteller Tijan Sila würde sie „sofort heiraten“. Sie gerate bei ihren Gästen manchmal in eine „obsessive Verliebtheit“. „Dear Reader“ ist Begeisterung pur. Dabei kommt nicht unbedingt Literaturkritik heraus, sondern ein tatsächliches Gespräch, das oft spannender ist. Die Süddeutsche Zeitung nannte den Pod­cast mit einigen Tausend Hö­re­r*in­nen im vergangenen Jahr „die interessanteste Literatursendung, die es im Moment in deutschsprachigen Medien gibt“.

Aus dem Wohnzimmer schallt der Soul-Hit „Ain’t Nobody“ in die Küche herüber. Radio, das liebt Jacobs schon lange, aber „Podcasterin sein“ klinge seltsam. Womöglich, weil man bei „Podcast“ noch immer eher an zwei Typen denkt, die Witze machen und das Content nennen, nicht an die Bücherstapel, die Jacobs vor jedem ihrer Gespräche aufschichtet, die tagelange Recherche zu jedem Gast, die handschriftlichen Notizen, die während der Aufnahme vor der Gastgeberin liegen wie ein halbes Archiv.

Bevor zu Beginn der nuller Jahre ihr erster Beitrag im Bochumer Uni-Radio lief, war Jacobs eine Woche krank vor Nervosität. Und danach noch eine: vor Scham. Sie studierte Literatur und Geschichte, später arbeitete sie in München für den „Zündfunk“ des Bayrischen Rundfunks und die Angst vor dem Mikrofon legte sich. „Meine Hauptaufgabe ist, dafür zu sorgen, dass meine Gäste sich wohlfühlen“, sagt sie heute über die Podcastaufnahmen. Deswegen gibt es den Kuchen und vielleicht ein Glas Sekt, mindestens aber eine Tasse Kaffee, bevor es an die Mikrofone geht. Der Trick ist, auch etwas von sich selbst preiszugeben. So, wie sie mir jetzt sagt, dass ihre Stimme ins Mädchenhafte kippt, wenn sie nervös ist.

Man hört ihr gerne zu, denn Jacobs spricht über Texte wie über kleine Lebewesen. Vor einigen Wochen war die Schriftstellerin Maren Kames zu Gast, über deren lyrischen Roman „Hasenprosa“ Jacobs ins Mikrofon sagte, „mal tropft die Sprache, bis sie fast stillsteht, mal rast sie schwallartig“. Man sieht die Sprache dann förmlich vor sich, wie sie rast. Doch besonders gern lässt Jacobs die Schrift­stel­le­r*in­nen selbst reden. Sie unterbricht nie, bloß um selbst mal wieder etwas zu sagen. Vielleicht scheinen klassische Podcaster-Assoziationen für Jacobs auch deshalb schräg.

Jeden ihrer Gäste fragt Jacobs nach den Texten seines Lebens. Die Philosophin Eva von Redecker brachte eine 800-Seiten-Biografie über Hannah Arendt mit, Maren ­Kames einen Rapsong. Selten bringt jemand einen Text mit, auf den Jacobs keine Lust hat, dann blättert sie eher so durch. Den Abenteuerroman von Jack London etwa, den die österreichische Autorin Barbi Marković vorschlug – „bei aller Liebe für sie, der hat mich schrecklich gelangweilt“. Meistens aber vergräbt Jacobs sich in die Texte, die anderen etwas bedeuten. Der Bücherstapel, mit dem sie sich auf ihren nächsten Gast vorbereitet, liegt schon im Wohnzimmer bereit. Sie liest jeden Verweis, geht jeder Assoziation nach. „Ich bin ein totaler Over-Preparer, das muss sich ändern, wenn ich groß bin“, sagt die 46-Jährige.

Will man wissen, welches die Texte ihres eigenen Lebens seien, gibt Jacobs zu: „Das ist eine unmögliche Frage!“ Dann legt sie trotzdem zwei Bücher auf den Küchentisch. Eigentlich habe sie Roland ­Barthes’„Die Vorbereitung des Romans“ aus dem Regal nehmen wollen, aber das sei ihr zu prätentiös vorgekommen. Stattdessen liegen dort „Minihorror“ von Barbi Marković, einfach weil es Spaß bringt, und der Briefroman „Von Paul zu Pedro“ von Franziska Gräfin zu Reventlow – das Buch, das sie am öftesten verschenkt. Einen Satz daraus hat sie auf einem Zettel notiert, den sie nun vorliest und lacht, weil er so gut passt: „Ich stelle mir bei allen Lebenslagen, die mir peinlich sind, gerne vor, dass ich nur eine Rolle spiele, eben jetzt diese oder jene spielen muss, die mir nicht recht liegt.“

Jacobs ist zwar nicht gerne prätentiös, aber sie kann es sein. Wenn „gewisse männliche Schriftsteller“ zu Gast seien, holt sie diese Fähigkeit manchmal hervor, erzählt sie, während sie sich eine Zigarette dreht. Um sich zu behaupten, staple sie deren ganzes Werk vor sich auf und lasse schon mal ein Barthes-Zitat fallen. Jacobs duckt sich unter den pinkfarbenen Sonnenschirm auf dem Balkon und raucht, es ist wieder so ein Tag, den man für den letzten warmen des Jahres hält. Die Tür zum Wohnzimmer steht offen, darin hat sie ihre Bücher nach Farben sortiert, „visuelles Gedächtnis“. Wie ihre Plattensammlung kommen auch die dreizehn Bände des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ von ihrem Vater, ein Geschenk zum Studienabschluss.

„Kleinbürgertum mit Bildungshunger“, so beschreibt Jacobs ihr Aufwachsen im Ruhrgebiet, ihre Eltern seien „feier- und lebenslustige 68er, die in der Provinz geblieben sind“. Als Kind las sie Astrid Lind­gren, Christine Nöstlinger, Erich Kästner und später Groschenromane, die sie im Schrebergarten der Großmutter fand. Im Studium standen Männer und deren Popliteratur auf dem Curriculum: Christian Kracht, Benjamin von Stuckrad-Barre, „das hat mich null interessiert“. Jacobs suchte also nach weiblicher Popliteratur. Ihre Magisterarbeit schrieb sie zu der Sängerin und Autorin Françoise Cactus, die Jacobs kurz vor deren Tod noch zu „Dear Reader“ einlud.

Besonders gern lässt Mascha Jacobs die Schrift­stel­le­r*in­nen selbst reden. Sie unterbricht nie, bloß um selbst mal wieder etwas zu sagen

Viele ihrer Podcastgäste haben in diesem Jahr große deutsche Literaturpreise gewonnen, Barbi Marković den Belletristik-Preis der Leipziger Buchmesse, Tjian Sila den Ingeborg-Bachmann-Preis, Maren ­Kames stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Aber darum geht es Jacobs nicht, sie will keine Promis – obwohl das mehr Klicks, zuverlässigeres Geld bringen würde. Was sie interessiert, ist eine spielerische Form im Schreiben. So wie bei „Mini­horror“ von Marković, dem zweiten ihrer für heute ausgewählten Lieblingsbücher. Es ist ein Comicroman, in dem die Figuren Mini und Miki, angelehnt an Minnie- und Mickymaus aus den „Lustigen Taschenbüchern“, auf Monster und Alltagsstress treffen.

Jacobs hat beim Lesen laut lachen müssen, das kommt nicht oft vor. Etwa über die Anekdote, in der Mini freiberuflich arbeitet und weiß, „dass das, was sie macht, nie genug sein kann, aber dass sie ebenso in Gefahr ist, zu viel zu machen. Deswegen weint sie, weil sie jetzt nicht weiß, ob sie Gas geben oder Pause machen oder ins Fitnessstudio gehen oder E-Mails schreiben soll.“ Jacobs kennt das, sie hat etwa sieben Jobs: Sie gibt das Magazin POP. Kultur und Kritik mit heraus, legt auf, moderiert, redigiert Texte, schreibt selbst, literarisch und journalistisch. Und sie liest, manchmal wochenlang für eine Podcastfolge. „Das, was ich mache, ist das, was ich mir als Zwanzigjährige erträumt habe“, sagt sie.

Nur Elfriede Jelinek fehlt noch. Jacobs schrieb ihr im vergangenen Jahr einen Brief, um sich für ihr ­Schreiben zu bedanken. Sie zu „Dear Reader“ einzuladen, habe ­Jacobs sich aber nicht getraut. ­Jelinek, das ist bekannt, verlässt ihr Haus kaum mehr. Vielleicht hat die Schriftstellerin recht damit, dass es sich selten lohnt, auf die Gefahren der Welt da draußen einzugehen. Doch wenn es sich lohnen könnte, dann hierfür: zwei Stunden am Küchentisch mit Mascha Jacobs. Entlässt sie einen aus dem Gespräch zurück in das Treppenhaus des Pankower Altbaus, ist es, wie wenn eine ihrer Pod­cast­folgen zu Ende geht: Die imaginäre Leseliste ist unendlich viel länger geworden.

https://dearreader.podigee.io/

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