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Luftangriffe auf ukrainische ZivilistenMenschenjagd mit Drohnen

Im nordukrainischen Gebiet Sumy an der Grenze zu Russland sind Zivilisten täglichem Beschuss ausgesetzt. Brände können häufig nicht gelöscht werden.

Der leitende Sprengstofftechniker der Region Sumy, Ihor Tschernjak, mit einer russischen Drohne Foto: Anna Klochko

Sumy taz | „Sobald es dunkel wird, wird der Artilleriebeschuss stärker, es fallen mehr Bomben und fast unsichtbare Drohnen beherrschen das Dorf. Diese Kamikaze-Drohnen jagen uns selber am Tag, nachts greifen sie unsere Häuser an. Ich habe Angst davor, alleine im Keller zu sein. Deshalb habe ich monatelang im fensterlosen Badezimmer geschlafen – das ist ein bisschen sicherer als im Schlafzimmer. Niemand im Dorf schläft mehr in seinem Bett. Wir schlafen alle in Kleidung und Schuhen, selbst bei 40 Grad Hitze, damit wir bei einem Drohnenangriff keine Sekunde Zeit verlieren“, erzählt die 72-jährige Olena Surovitskaja mit zitternder Stimme.

Vor ein paar Wochen hat ihre Enkelin Anna Serych die Großmutter zu sich in die Kreisstadt geholt. Dort ist die alte Dame jetzt verhältnismäßig sicher. Anna hatte große Angst um ihre Oma, die bislang im Dorf Schalyhyne lebte, nur 4 Kilometer von der Grenze entfernt. Die russischen Soldaten veranstalten dort mit FPV-Drohnen täglich regelrechte Safaris auf die ukrainische Zivilbevölkerung.

Mitte August hatten russische Drohnen innerhalb von 48 Stunden dreimal das Haus von Annas Großmutter angegriffen und zum Teil zerstört. Für die alte Dame waren das schreckliche Nächte. Olena Surovitskaja versteckte sich im Bad und betete, während die feindlichen Drohnen ihr Haus umschwirrten. Schon beim ersten Angriff rieselte Olena der Stuck auf den Kopf. Als sie am folgenden Morgen das Ausmaß der Zerstörung sah, war sie bereit, zu ihrer Enkelin zu ziehen. Aber sie sorgt sich um ihren Gemüsegarten und dass die Drohnen noch mehr Schaden anrichten.

Kein Strom, kein Wasser – nicht mal zum Löschen

Ein weiteres Problem in der Grenzregion ist der Mangel an Löschwasser. Die russischen Streitkräfte haben praktisch die gesamte Energieinfrastruktur in einer 5-Kilometer-Zone entlang der Grenze zerstört. Oft gibt es tagelang keinen Strom. Ohne Strom können aber die örtlichen Pumpsta­tionen nicht arbeiten. Deshalb konnten zahlreiche Brände nicht gelöscht werden. Und da die russische Armee vor allem Rettungskräfte und Sanitäter ins Visier genommen hat, dürfen die sich dieser 5-Kilometer-Zone nicht nähern.

Olena Surovitskaja erinnert sich mit Bitterkeit daran, wie oft die Dorfbewohner hilflos zusehen mussten, wie einzelne Häuser nach Drohnenangriffen bis auf die Grundmauern niederbrannten, weil es kein Wasser gab.

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FPV-Drohnen sind eigentlich ganz gewöhnliche kleine Fluggeräte, mit denen in Friedenszeiten Touristik-Events oder Hochzeiten gefilmt wurden. Aber im Krieg haben sie sich in tödliche Waffen verwandelt.

Die Drohnen sind mit einer Sprengladung ausgestattet, die beim Aufprall auf ein Ziel detoniert. Und diese Ziele sind nicht nur Soldaten an der Front, sondern auch Zivilisten, Verkehrsmittel und Wohngebäude im Hinterland. Kamikaze-Drohnen zerstören sich nach dem Aufprall auf ein Objekt selbst. Ein anderer Typ lässt einfach ein Projektil auf ein statisches Ziel fallen und kehrt unversehrt zu demjenigen zurück, der die Drohne steuert.

Der Drohnen-Operator kann sich in einer Entfernung von 2 bis 10 Kilometern vom Ziel befinden. Per Kamera überträgt die Drohne Videos an ihn und dient ihm quasi als „Auge“. Viele Ukrainer fragen sich: Wer sind diese russischen Drohnen-Operatoren, die Jagd auf Menschen machen? Haben sie Eltern, Ehefrauen, Kinder? Was haben sie früher beruflich getan? Wie fühlen sie sich, wenn die von ihnen gesteuerte Drohne einem Menschen die Gliedmaßen abreißt oder ihn tötet?

Jagd auf Lieferwagen, Züge – und Menschen

Rettungskräfte im Gebiet Sumy sind mehrmals täglich mit den Folgen der Drohnenangriffe konfrontiert. Die russischen Streitkräfte machen damit Jagd auf Busse und Brotlieferwagen – und auf Menschen, die humanitäre Hilfe verteilen und empfangen.

Verstärkt werden Passagiere beim Ein- und Aussteigen aus Zügen angegriffen. Auch Brände werden gelegt: An einem Tag im September brannten 50 Hektar Wald im nördlichen Teil der Region Sumy, als eine Drohne einen Kanister mit einem Brandsatz abgeworfen hatte.

„Im August grub eine Nachbarin in Schalyhyne gerade Kartoffeln in ihrem Garten aus, als eine russische Drohne mit wahnsinniger Geschwindigkeit auf sie zuflog. Die Nachbarin warf sich auf den Boden und stellte sich auf den Tod ein. Aber die Drohne kreiste immer tiefer über ihr, als wolle sie sie verhöhnen. Dann verschwand sie plötzlich. Doch als die Frau zum Haus rannte, tauchte die Drohne wieder über ihr auf. Das passierte noch mehrere Male“, erzählt Olena.

Drohnenjagd als psychologische Kriegsführung

Der leitende Sprengstofftechniker der Region Sumy, Ihor Tschernjak, vermutet, dass die russischen Drohnenpiloten möglicherweise auf diese Weise trainieren. Die Aktionen können aber auch ein Mittel der psychologischen Kriegsführung sein, um die Menschen einzuschüchtern.

„Es ist praktisch unmöglich, einer Kamikaze-Drohne auszuweichen oder sie abzuwehren. Die Russen statten ihre Drohnen oft mit Schrapnellen aus, um den Schaden zu maximieren. Das Einzige, was man tun kann, ist, so schnell wie möglich in Deckung zu gehen oder sich in einem Gebäude zu verstecken“, erklärt Ihor Tschernjak, der täglich mit diesen Mordwaffen zu tun hat.

Im Hinterhof des örtlichen Hauptquartiers der Bombenentschärfer findet man die Gehäuse von entschärften 500 kg-Bomben, Artilleriegranaten, Minen, Raketen und Drohnen aller Art. Die Sammlung wächst unaufhaltsam. Ukrainische Experten analysieren sorgfältig die Taktiken und Waffen des Gegners, um Wege zu finden, sich gegen sie zur Wehr zu setzen. Als wirksamste Mittel gegen Drohnen gelten bisher elektronische Anti-Drohnen-Netzwerke und Luftabwehr auf kurze Distanz. Aber die Russen haben viele Drohnen, und die Länge der Grenze, über die sie sie starten, ist riesig. Im September erreichte die Intensität der Drohnenjagd auf Bewohner der Grenzgebiete ihren vorläufigen Höhepunkt.

In Olenas Dorf Schalyhyne hatte es erst kürzlich einen Vorfall gefährlichen Zwischenfall gegeben. Jurij Wischnewsky hatte seine 90-jährige Mutter Oleksandra mittags zu einem kurzen Spaziergang abgeholt. Als sie dann auf einer Gartenbank in der Herbstsonne saßen, hörten sie plötzlich ein unnatürliches Summen über sich. Juri hatte nicht einmal Zeit, aufzuspringen, als die russische Drohne drei Meter entfernt von ihnen abstürzte. Schnell brachte er seine Mutter so schnell wie möglich ins Haus und rief das Bombenkommando.

Es ist strengstens verboten, dass die Menschen selber Drohnen anfassen, da die Sprengköpfe von einem Moment auf den anderen detonieren könnten. Deshalb wurde auch diese Drohne von Experten entschärft. Diese Geschichte ist also noch einmal gut ausgegangen. Aber der Krieg geht weiter. Und die Grenzregion im Gebiet Sumy erinnert immer mehr an eine blutige Wunde auf der ukrainischen Landkarte.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

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2 Kommentare

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  • Und Leute wie Sarah und die Wagenknechte wollen diesen skrupellosen Killern auch noch Zugeständnisse machen.

  • Da hat bestimmt - wie immer - irgendwie der Westen dran Schuld. Gell, Frau Wagenknecht?