Graphic Novel von Craig Thompson: Unkraut jäten, Steine sammeln, Comics lesen
In „Ginsengwurzeln“ kehrt Comic-Autor Craig Thompson an den Ort seiner Kindheit zurück. In Marathon, Wisconsin, beginnt seine fulminante Welterzählung.
Ginsengwurzeln werden traditionell in der chinesischen Medizin eingesetzt und vor allem in Asien vielfältig konsumiert. Doch geografisch wählt Craig Thompsons in seiner jüngsten Graphic Novel mit dem gleichnamigen Titel einen ganz anderen Ausgangspunkt. „Ginsengwurzeln“, die 450-seitige Erzählung des US-amerikanischen Zeichners, führt zunächst nach Marathon im Bundesstaat Wisconsin.
Denn Panax quinquefolius, so der botanische Name für den amerikanischen Ginseng, wird in der ländlichen Gemeinde, wo Thompson aufwächst, schon seit über hundert Jahren von den Farmern für den asiatischen Markt lukrativ und in großem Maßstab angebaut.
Als Erntehelfer verbrachten der 1975 geborene Autor und sein jüngerer Bruder Phil dort in Wisconsin die Sommerferien kniend in den vielen Ginsenggärten. Das verdiente Taschengeld investierten die beiden anschließend wiederum in Comics.
Die bunten Hefte vom Drehständer der Drogerie waren für die Jungs eine willkommene Abwechslung und zugleich die rettende Inspiration in dem kulturfernen Alltag ihrer Kindheit.
Craig Thompson: „Ginsengwurzeln“. Aus dem Amerikanischen von Matthias Wieland. Handlettering von Michael Hau. Verlag Reprodukt, Berlin Oktober 2024, 456 Seiten, 39 Euro
Coming of Age in der Provinz
In der Graphic Novel „Ginsengwurzeln“ kehrt Thompson nun zurück an den Schauplatz von „Blankets“, seiner vielfach ausgezeichneten Graphic Novel aus dem Jahre 2003. Der autobiografische Comic erzählt vom Coming of Age in einem autoritär repressiven Elternhaus in einem fundamentalistisch evangelikalen Umfeld und von der Tyrannei seiner Mitschüler.
Von diesem Punkt auf der Landkarte, der in den USA abschätzig als „Flyover Country“ bezeichnet wird, beginnt Craig Thompson seine vielschichtige und weit verzweigte Welterzählung.
Ursprünglich als Serie aus Einzelheften in den USA ab 2019 veröffentlicht, entwickelt Craig Thompson sein episches Werk in zwölf Kapiteln. Virtuos verknüpft er dabei die Entwicklung der Landwirtschaft in den Vereinigten Staaten mit ihrer dreihundertjährigen Handelsbeziehung zu China mit dem Schicksal der aus Laos geflüchteten Hmong sowie der eigenen Familiengeschichte.
Eine anthropomorph dargestellte Ginsengwurzel tritt als die Hauptdarstellerin der Graphic Novel auf. Sie führt durch Thompsons zeichnerisches Labyrinth aus Erzählungen, die auf vielfältige Weise in Beziehungen zu dieser besonderen Heilpflanze stehen.
Ginseng in Nordamerika
Deren Kultivierung ist anspruchsvoll und verlangt viel Handarbeit. Eine Arbeit, die inzwischen fast ausschließlich Migranten erledigen. Ursprünglich als Wildpflanze in den Wäldern Kanadas zu Hause wird amerikanischer Ginseng heute von Agrarbetrieben unter Einsatz großer Mengen von Fungiziden und Pestiziden industriell angebaut.
So leidet Autor Thompson selbst unter einer aggressiven Fibromatose der Hände. Die Autoimmunerkrankung scheint in engem Zusammenhang mit der von Pestiziden kontaminierten Landschaft seiner Kindheit zu stehen.
Unter großem Leidensdruck griff er zur Behandlung bald auch auf die chinesische Medizin zurück, unter anderem mit Ginsengrezepturen. Neben vielen anderen Ereignissen und enzyklopädischen Exkursen fließen diese Erfahrungen ebenfalls in die Graphic Novel mit ein.
Über Jahre hat Craig Thompson akribisch recherchiert, ist mit seinem Bruder nach China und alleine nach Taiwan gereist. In Marathon, in der Nachbarschaft seiner Eltern, führte er Interviews mit Bekannten, ehemaligen Arbeitgebern und neuen Ginsengproduzenten.
Hmong Community in Wisconsin
In „Kein Zeichentrick mehr“ und den anschließenden Kapiteln erzählt Thompson von der kurzen Kindheit des fast gleich alten Chua Vang, einem Ginsengfarmer aus der Hmong Community von Marathon. Dessen Vater sowie viele andere Heranwachsende dieser Minderheit aus den Bergen von Laos waren während des Vietnamkrieges von der US-Army rekrutiert und in Guerillaeinheiten gegen den Vietcong eingesetzt worden.
Nach dem überstürzten Abzug der USA aus Vietnam gelang ihm über Umwege die halsbrecherische Flucht nach Wisconsin, wo er zusammen mit vielen vertriebenen Hmong-Familien als Erntehelfer in den Ginsenggärten zu arbeiten begann.
Craig Thompson hatte als Kind ihre Ankunft auf den Feldern erlebt und auch die vielen abschätzigen Kommentare über die Fremden gehört. Chua Vang wird 1977 in Marathon geboren, wo er bis heute mit seiner Familie lebt. Auch davon erzählt „Ginsengwurzeln“.
Die Menschen, denen er dort nach langer Abwesenheit wiederbegegnet, zeichnet Thompson nicht als einfältige Hinterwäldler. Auch seine Protagonisten im ländlichen Wisconsin haben eine Vergangenheit, pflegen Gemeinsinn und sind durch ihre körperliche Arbeit mit dem Land verbunden.
Farmer in globalisierter Welt
Doch es sind auch Leute wie seine Eltern, die den Klimawandel und die Evolutionstheorie leugnen, Einschränkungen weder bei Schusswaffen noch Pestiziden akzeptieren und Fremden misstrauen.
Fast beiläufig skizziert er damit das höchst aktuelle und differenzierte Porträt einer politischen Schicht, deren ländliche Existenz mit dem technologischen Fortschritt und der zunehmenden Globalisierung längst nicht mehr Schritt halten kann.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg Donald Trumps protektionistischer Rhetorik in den agrarindustriell geprägten Regionen der USA sehr plausibel. In szenischen Rückblenden verfolgt der Ausnahmeautor gleichzeitig seinen eigenen biografischen Weg zurück zu seiner Herkunft, in ein familiäres Ambiente, das ihm und seinen Geschwistern weder Bildung noch persönliche Freiheiten bot.
Abwechslungsreich und detailliert gestaltet der 49-jährige Zeichner die Seitenabfolge in Rot und Schwarz. Klassische Bildfolgen werden durch Schautafeln ergänzt, ganzseitige Formate oder historischen Darstellungen hinzugefügt.
Chinesische Schriftzeichen und Ornamentik
Vereinzelt stößt man nebenbei auf Zitate oder Anleihen der Comic-Geschichte. Als zusätzliche Ebene setzt Thompson chinesische Schriftzeichen und Ornamentik ein, deren Bedeutung er intensiv nachspürt.
Bereits mit „Habibi“, seiner 2011 veröffentlichten Graphic Novel, die er als fiktive Erzählung aus einem orientalischen Setting zwischen Vergangenheit und Gegenwart entwickelte, tauchte der Zeichner tief ein in arabische Mythen und Zeichensysteme – in Kalligrafie und Numerologie.
Das opulente Epos wurde bei seinem Erscheinen von der Kritik begeistert gefeiert. In den USA erlebte der Autor für seine Auseinandersetzung mit der orientalischen Welt jedoch auch Anfeindungen wegen des Vorwurfs kultureller Aneignung. Als sein „Ginseng“-Projekt bekannt wurde, tauchten in Bezug auf China wieder ähnliche Stimmen auf.
In einem Interview mit der spanischen Tageszeitung El Mundo sagt Craig Thompson dazu: „Sie erkannten nicht, dass es sich um das persönlichste meiner Werke handelt und dass ich nicht über meine Kindheit sprechen kann, ohne über die chinesische Kultur zu sprechen.“
Meisterhaft erkundet der Comic-Autor in „Ginsengwurzeln“ das Potenzial seines Mediums und verfolgt konsequent eine Erzählmethode, die alles mit allem verknüpft. Das ist genauso erstaunlich wie folgerichtig.
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