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Clemens Meyer beim Deutschen BuchpreisWollen wir nicht lieber über die Bücher selbst reden?

Was gute Literatur ausmacht, lässt sich nur aushandeln, wenn öffentlich über sie gestritten wird. Der Deutsche Buchpreis ist dabei leider keine Hilfe.

Es liegt an den Strukturen: die Au­to­r*in­nen der Shortlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises Foto: Andreas Arnold/dpa

Hat sich der Deutsche Buchpreis in 20 Jahren verändert? – Hat er nicht, zumindest nicht wesentlich“, sagte Ina Hartwig, Kulturdezernentin der Stadt Frankfurt am Main, in ihrer Rede vor der Verleihung im Frankfurter Kaisersaal am 14. Oktober. Die Welt aber, setzte sie nach, die habe sich ganz erheblich verändert und damit auch die Diskussionen über Literatur.

Mit Ersterem hat sie Unrecht. Nicht zuletzt, weil Social Media ein Ort geworden ist, an dem über Literatur gesprochen und Aufmerksamkeit generiert wird, wird seit einigen Jahren jedem Buch auf der Longlist eine Buchbloggerin oder Blogger zugeordnet, der oder die dann über sein oder ihr „Patenbuch“ auf Social Media schreibt. Wer nun denkt, dass mehr Aufmerksamkeit automatisch mehr Diskussionen um Literatur generiert, irrt.

Im Gegenteil: Die Literatur, der Text selbst, ist sogar weniger Gegenstand der Auseinandersetzung geworden. Worüber aber wahrscheinlich mehr geredet wird als je zuvor, ist das Auftreten von Autor*innen, über ihre politische Haltung, Kleidung, Entgleisungen, Gesten der Solidarität, Eltern oder über ihre vermeintliche „Herkunft“.

Viele Schrift­stel­le­r*in­nen sind sehr gut darin, dieses Verlangen nach Authentizität – zumindest online – zu bedienen und von sich reden zu machen. Es ist genau das, was von ihnen verlangt wird. Sie generieren dadurch Aufmerksamkeit, die wiederum zu höheren Verkaufszahlen führt. (Das macht noch keine schlechte Literatur!)

Die Autorin

Anna Yeliz Schentke ist Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin. Ihr Debütroman „Kangal“ stand 2022 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Sie promoviert an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

Wer mit seinem Buch auf die Spiegel-Bestsellerliste will, sollte (literarisch) möglichst nicht anecken, denn gekauft wird am ehesten, was leicht konsumierbar ist. Zwischen diesen Büchern findet sich auch Caroline Wahls neuer Roman „Windstärke 17“, die Autorin stand zuletzt in der Kritik, weil sie sich auf Instagram darüber echauffiert hatte, dass ihr Roman nicht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. „22 bahnen wird pflichtlektüre neben fucking bertolt brecht“, schrieb sie unter einem zweiten Posting, das sie mit Prada-Brille zeigt.

Was Literatur ausmacht

Jetzt könnte man fragen: Wozu braucht Caroline Wahl noch den Deutschen Buchpreis? Zumindest monetär dürfte sie durch ihre Bestseller-Platzierungen für die nächsten Jahre ausgesorgt haben, an Aufmerksamkeit fehlt es ihr auch nicht. Es scheint ihr darum zu gehen, als mehr als nur gut verkaufte Unterhaltungsliteratur wahrgenommen zu werden, nämlich als künstlerisch wertvoll.

Es geht also um die Frage, was „Literatur“ ausmacht, welcher Begriff von Literatur Gegenstand der Jurybewertung ist. Dies lässt sich nur aushandeln, wenn auch über die Texte selbst gesprochen wird, wenn über sie gestritten wird – öffentlich. Formate wie der Deutsche Buchpreis werden dieser Aushandlung nicht gerecht, sie verhindern sie sogar.

Die Entscheidungen von Jurys in der Buchbranche bleiben meist im Verborgenen – zwar wird das Siegerbuch gelobt, erklärt, warum es großartig sei, wieso es andere Texte jedoch im Gegensatz nicht geschafft haben, darüber kann nur spekuliert werden. Es führt zu Unmut, gekränkten Egos, Munkeln über Verschwörungen, aber auch zu berechtigter Kritik an Preisen und deren Vergabemodalitäten.

Autor*innen, die für die Short­list nominiert sind, sitzen im Publikum, kurz vor Bekanntgabe des Siegertitels werden die Kameraleute nervös, jedes Zucken, jede Aufregung, Enttäuschung oder Freude soll eingefangen werden, damit im Nachhinein darüber gesprochen werden kann.

Zusammensetzung der Jury

Ein Blick auf die Zusammensetzung der jeweiligen Jurys lässt vermuten, dass es bei der Frage nach dem „besten“ Buch durchaus auch zu Streitigkeiten kommen kann: Sie setzt sich zusammen aus Literaturkritik, Wissenschaft, Buchvermittlung und Handel. Beste Voraussetzungen also, wenn es darum geht, sich nicht einig zu sein.

Nichts wäre spannender, als zu sehen, wie überhaupt Vergabekriterien, wie ein gemeinsamer Literaturbegriff ausgehandelt wird, auf dessen Basis dann über die Texte gestritten wird. Wie kann es sein, dass ein Text ausgezeichnet wird, aber niemand darüber spricht, welche Kriterien angelegt werden, welche Argumente ausgetauscht wurden?

Sollten wir Social Media als Ort des Sprechens über Literatur also eine Chance geben? Könnte es sich um ein progressives Gegenstück zu vermeintlich verstaubten Formaten wie dem Deutschen Buchpreis handeln, das frei von gesellschaftlichen Machtstrukturen und Kanon „authentische“ Gespräche über Literatur zulässt, die öffentlich geführt werden?

Vie­le Schrift­stel­le­r*in­nen sind sehr aktiv auf Social Media, teilen intime Momente, betreiben Selbstvermarktung, kommentieren politisches Weltgeschehen – dabei geht es selten um die Literatur selbst. Das ist ihr gutes Recht. Allerdings werden mitunter Kol­le­g*in­nen beleidigt und diskreditiert: Der Autor Behzad Karim Kahni schrieb zu Herta Müllers Essay „Ich kann mir die Welt ohne Israel nicht vorstellen“, dass ihr Gehirn wohl schon in Rente sei und „F*** her anyway. Ist in paar Jahren eh tot“.

In einem weiteren Posting kritisiert er PEN-Berlin-Sprecher Deniz Yücel, er habe sich mit einer „kindischen, distanzlosen, schnippischen und hämischen“ Nachricht auf Karim Kahnis Austritt aus dem Verein gemeldet. Karim Kahni verstehe die Aufregung nicht, er habe den PEN Berlin „in Frieden“ verlassen, er sei ein „kleiner, unbedeutender Autor“, ein Underdog. Nur ein Fingerwisch weiter zeigt er sein provokatives Austrittsposting. Es handelt sich bei diesem Social-Media-Auftritt um ein Wechselspiel zwischen teilweise menschenverachtender Provokation und einem Schreien nach Aufmerksamkeit, nach Zustimmung.

Autoren als Marken

In Reaktion auf Clemens Meyers Wutausbruch bei der Verleihung des Deutschen Buchpreises 2024, der an Martina Hefter ging, berichtet der Autor Dinçer Güçyeter auf Facebook, dass er dem Kollegen eine Nachricht geschrieben habe, samt Wortlaut. Er empfiehlt Meyer darin, mehr Größe zu zeigen, so wie die Autorinnen und Autoren, die mit ihm in der engeren Auswahl für den Leipziger Buchpreis standen, den er damals selbst erhalten hatte, denn „keins dieser bücher war schlechter“ als seins.

Einen Tag später schreibt er: „auch witzig, kollege meyer hat in 20 jahren 20 preise bekommen und redet von schulden. Ich habe in 20 jahren 4 preise bekommen und fühle mich wie der scheich-boss (…)“. Meyer markiert er damit als unsolidarisch und arrogant, ganz das Gegenteil von Güçyeter selbst, der demnach bescheiden und gutmütig sei, dabei aber kritische Kommentare fleißig löscht.

Auf Social Media verorten sich die Autoren als Marken im literarischen Feld. Dieser Mechanismus funktioniert automatisch, unabhängig davon, ob sie sich ihrer Inszenierung bewusst sind oder nicht. Auffällig ist, dass ihre Äußerungen meist wenig komplex sind, sondern vielmehr laut und beleidigend, wenig argumentativ oder aber um jeden Preis innerhalb der eigenen Followerschaft nach Zustimmung suchen.

Rezensionen von Buchbloggerinnen und Buchbloggern werden weniger geklickt, weniger diskutiert als provokante Meinungsäußerungen von Au­to­r*in­nen. Wenngleich sich einige von ihnen intensiv mit den Texten auseinandersetzen, kommt es selten zu einem digitalen Gespräch über die Literatur. Sie funktionieren, egal wie sie beschaffen sind, vielmehr als Verkaufsargument. Ein Like ist schnell verteilt.

Zustimmung provozieren

Aufmerksamkeit auf Social Media bekommt also, was Zustimmung generiert oder provoziert. Buchbesprechungen auf Social Media evozieren affirmative Reaktionen, selbst wenn die Besprechungen in Textform hier und da komplex sind. Das Buch wird auf einem Foto in Szene gesetzt, es werden Sterne oder Punkte vergeben. Kriterien für „gute“ Literatur sind häufig thematische Schwerpunkte, Authentizität, Lesbarkeit. Dem Verlag wird für die Zusendung gedankt. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Text selbst und seiner Form wird durch die Beschaffenheiten der Plattformen, durch die meist nur kurzen oder symbolhaften Interaktionsmöglichkeiten erschwert.

Literaturpreise wie der Deutsche Buchpreis integrieren all diese negativen Effekte digitaler Kommunikation und tilgen die möglichen Vorteile wie die breiteren Partizipationsmöglichkeiten. Sie fördern das Gerede über Außerliterarisches. Solange nicht über Texte so sehr gestritten wird wie über Clemens Meyers Wutausbruch bei der Preisverleihung, haben sie nichts mit Literatur zu tun.

Grund dafür sind nicht einzelne Jurymitglieder, sondern die Struktur, in die sie eingebettet sind. Könnten und sollten Literaturpreise nicht gerade dann eine Chance sein, genau das zu fördern, was sich den Eigenlogiken der Aufmerksamkeitsökonomien auf Social Media, den Bestenlisten, die nach Verkaufszahlen funktionieren, den Selbstdarstellungs- und Vermarktungsversuchen von Autorinnen und Autoren, entzieht? Einen Raum schaffen, der Aufmerksamkeit jenseits von heuchlerischer Harmonie oder Zerstörungswut auch analog „klickbar“ macht?

Sollten Sie nicht genau das fördern, was gegenwärtig viel zu kurz kommt: das argumentative Streitgespräch? Ein Gespräch, das nicht darauf aus ist, die andere Position zu zerstören, sondern von sich selbst zu überzeugen, mit Dis­ku­tan­t*in­nen, die ein Interesse haben, zu überzeugen und überzeugt zu werden, nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern auch auf der Bühne?

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1 Kommentar

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  • Man kann über beides reden. Über den Buchpreis und über Bücher. Das eine schliesst das andere nicht aus, und über den Buchpreis wird ja nicht ein Jahr diskutiert.