Roman über junge Leute in der Türkei: Sprechen oder Schweigen
Anna Yeliz Schentkes Roman „Kangal“ dreht sich rund um die Proteste im Istanbuler Gezi-Park und den Umgang mit Überwachung.
Damals wussten wir noch nicht, wie das Leben längst begonnen hatte, sich zu verschieben. Wenn wir damals schon ‚İsmi lazım değil‘ gesagt haben, was sollen wir dann heute sagen?“ Damals, das sind einige Monate, bevor Dilek nach Deutschland aufbricht, ihren Freund Tekin in Istanbul zurücklässt und mit Ayla, ihrer Cousine, in Frankfurt wieder Kontakt aufnimmt, nachdem der Kontakt ihrer beider Familien wegen unterschiedlicher politischer Positionen zerbrochen war.
Anna Yeliz Schentke ist 1990 in Frankfurt geboren und dort aufgewachsen. Ihr Debütroman „Kangal“ ist ein politisches Buch. 2013 begannen in der Türkei die Proteste im Gezi-Park, in deren Folge Tausende verhaftet wurden, 2016 scheiterte ein Putschversuch der türkischen Armee und mündete in einer Situation, in der Zehntausende verhaftet und Lehrkräfte und Universitätsdozierende entlassen wurden.
Dilek und ihre Freund*innen studieren in Istanbul, Soraya hat in der Studierendenzeitschrift veröffentlicht und ist verhaftet worden, ihre Freundin Hilal wurde bei einem queerfeindlichen Überfall verletzt und trägt eine Augenklappe.
„Kangal“ ist aber kein Roman, dessen Relevanz sich nur aus dem Inhalt des Erzählten ergibt. Es ist vielmehr die Erzählweise, die sich zusammenflicht aus den Stimmen Dileks, Tekins und Aylas, ein Zopf, bei dem die einzelnen Stränge schnell geflochten und nach wenigen Seiten durch den nächsten Strang gehalten werden.
Zwischen zwei Kontinenten, zwei Optionen, Gehen oder Bleiben, Sprechen oder Schweigen, sich anpassen oder Kritik üben – und damit auffallen. Zwischen den drei Perspektiven von Dilek, Tekin und Ayla entspannt sich das Spiel des Nachverfolgens, was wann geschehen ist, das beim Lesen Spannung erzeugt und die Atmosphäre dicht werden lässt.
Politisch wird der Roman durch die Fragen, die er stellt, nach dem Umgang mit Überwachung und Unfreiheit, erzählt als Liebes- und Familiengeschichte, als Trennungsgeschichte. Dilek, Tekin und Ayla werden zugleich als Verbündete und gegeneinander verkantet erzählt. Oft ist es eine Man-Erzählung oder eine Wir-Erzählung, eine Du-Erzählung: Es ist ein Man, bei dem noch nicht klar ist, dass sich das Ich aus der Menge lösen wird. Es ist ein Man der Momente, bevor sich etwas entscheidet.
Die Figuren suchen nach der Person, die sie sind, zwischen den Entscheidungen, die sie treffen können: „Jeden trifft es anders. Manche sind stiller als zuvor, manche lauter. Als müssten sie sich entweder für das eine oder das andere entscheiden. Entweder du machst mit, oder du sagst besser nichts. Bei den Stummen kann man nur ahnen, was in ihren Köpfen vorgeht. Ich weiß, dass wir nicht still genug waren, um einfach so durchzukommen.“
Kangal bedeutet Hirtenhund. Neben dem Wolf, von dem Gefahr ausgeht, und dem Schaf, das mitläuft, aber auch in der Menge verschwindet, gibt es noch eine dritte Option. Neben denen, die ihre Nachbarn per App melden, und denen, die sich weigern, die Probleme zu sehen, gibt es Menschen wie Dilek, die auf die Straße gehen, die auf den sozialen Medien ihren Protest zum Ausdruck bringen, die sich mit anderen solidarisieren.
Namensänderung zum Schutz
„Wir wurden schon beobachtet, als wir es noch nicht wussten. Als sie es uns spüren ließen, loggten wir uns über andere Länder ein. Wir heißen anders, aber wir schreiben, was wir wollen.“
Alle Mitglieder der Gruppe verwenden online andere Namen. Dileks Name ist Kangal1210. Einerseits ist anonym die Kommunikation über das möglich, was sonst nicht gesagt werden darf. Andererseits bedeutet dieser Schutz Distanz, unterbrochene Verbindungen, herausgenommene SIM-Karten. „The person you have called is temporarily not available.“
E-Mails und das Ein- und Ausschalten von Telefonen bestimmen den Text, in ihnen, was sie weglassen, was sie offenlassen, wo sie enden, erzählt sich die Handlung, eine Vogelperspektive, die niemals einen Überblick herstellt, sondern die in ihrem Wachen über die preisgegebenen Daten versucht, den anderen den Überblick zu nehmen, Beziehungen zu verbergen. Und immer die Frage, was der Staat weiß – aber wenn sie etwas wüssten, „dann wären wir schon längst nicht mehr hier“.
Das digitale Leben
Ein zweites, digitales Leben, das Als-ob, aber auch das, in dem man wirklich kommuniziert. In den Fragen, wer wir sind, wenn wir online anders kommunizieren als real, wenn sich politische Konflikte auf private Beziehungen auswirken, und in der Nähe, die die Erzählweise herstellt, ist der Roman auf der Höhe seiner Zeit – in der geografischen und durch menschliche Verbundenheit bestehenden Nähe von Regimen, wie dem in der Türkei oder in Russland, und ihren Auswirkungen auf die Onlinekommunikation und die Beziehungen der Menschen zueinander ist er brisant.
„Lieber eine andere sein als keine Stimme zu haben“, denkt Dilek an einer Stelle im Roman. Die Literatur ist hier immer zugleich ein Ort, um eine Stimme zu haben und um eine andere zu sein.