Spaziergang mit Streamingabo: Dieser Roboter ist nicht mein Freund
Ob Bach oder Beatles: Auf den Streamingdiensten ist Musik jederzeit verfügbar. Ein ständiges Hörerlebnis, selbst wenn man mal auf ein Wildtier trifft.
U nentschlossen schaut der Fuchs auf die halb verweste Ratte. Dann zu mir. Dann wieder zur Ratte. Und wieder zu mir. Aber ich weiß es doch auch nicht. „Kannste ganz allein für dich haben“, will ich ihm zurufen. Da wendet er sich ab und trottet langsam in Richtung des Großen Sterns. Nach ein paar Schritten dreht er sich herausfordernd um. Die aufgehende Sonne schillert durch die Bäume im Berliner Tiergarten. Ich sehe meinen Atem, während ich wenige Meter hinter dem Tier bleibe. Wir haben denselben Weg.
Play.
Die Wege wie mit Samt ausgeschlagen, herbstbelaubte Äste bilden bunte Tunnel. Gekauft hatte ich schon die Platte, dann die CD und jetzt bezahle ich also noch einen Streamingdienst dafür, dass Bachs Brandenburgische Konzerte auf Knopfdruck zur Verfügung stehen. Karajan wartet ungeduldig am Pult. Der Fuchs und ich, wir gehen nicht, nein, wir schreiten. Wie Fürsten, absolute Herrscher, beim Lustwandeln durch Gärten im französischen Stil. Rüschen, riesige Reifröcke, turmhohe Perücken; all-inclusive zum Barock ’n’ Roll. Zu jeder Zeit warten ein paar Musiker auf ihren Einsatz. Das Beste aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert halten sie vor. Kurz vor Moabit glänzt Versailles. Und wenn ich will, Woodstock, Glastonbury und die Loveparade dazu.
Pause.
Vollautomatisierte Playlists spülen mir die immer gleichen neuen Entdeckungen auf die Ohren. Dieser Roboter ist nicht mein Freund. Er kassiert allein für EMI, Sony, Universal und Warner. Die Künstler*innen würden an jeder Ecke hier im Park mehr pro Lied verdienen. Ein paar Dukaten hab ich immer griffbereit im Strumpfband. Wenigstens müssen die Philharmoniker nicht hungern.
Play.
Der Fuchs scheint mehr ein Tom-Waits-Typ zu sein, aber tolerant. Oder gerade deshalb. Es ist ihm egal, was ich höre, er hat seinen eigenen Rhythmus. Weitläufig umgehen wir die Absperrungen rund ums Schloss Bellevue. Staatsbesuch. Das Tier streunt, schaut hier und da. Räumt ein bisschen Aas und Gerümpel weg. Kaum jemand sieht ihn. Mein innerer Fürst bleibt als Echo auf den Kopfhörern, als ich den Park verlasse. Das hält bis vor das verspiegelte Bürohaus. Bis hierhin folgt der Fuchs. Er verschwindet auf dem Wirtschaftshof. Für mich heißt es Glastür, Empfang, Fahrstuhl, „The Girl from Ipanema“ ein letztes Mal.
Mute.
Skip. Skip. Skip. Play.
Endlich wieder draußen. Freiheit, Freiheit, A-l-g. Das Streamingabo ist gestrichen, das Strumpfband enger geschnürt. Doch wieder die CDs entstauben, digitalisieren und auf den ranzigen MP3-Player überführen. Noch einmal über den Bach schreiten, einmal schweben. Die Sonne steht inzwischen hoch über den Bäumen, blendet. Die Ratte ist verschwunden. Keine Ahnung, wo der Fuchs ist. Treibt sich vielleicht noch bei den Mülltonnen rum. Ich weiß aber, dass ich nicht nach ihm schauen muss. Er wird mich finden. Wir haben Zeit.
Volume up up up.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Autoritäre Auswüchse beim BSW
Lenin lässt grüßen
Prozess zum Messerangriff in England
Schauriger Triumph für Rechte
Rückgabe von Kulturgütern
Nofretete will zurück nach Hause
Tarifverhandlungen bei Volkswagen
VW macht weiterhin Gewinn
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott
BSW in Thüringen auf Koalitionskurs
Wagenknecht lässt ihre Getreuen auf Wolf los