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Klima-Bürgerrräte in Schleswig-HolsteinMenschen mit Alltagserfahrung gesucht

Flensburg und Pinneberg beteiligen sich an einem Modellprojekt für Klima-Bürgerräte, über deren Ergebnisse Volksentscheide befinden sollen.

So viel mehr Platz braucht ein Auto: Mann mit „Gehzeug“ bei einer Demo in der Flensburger Innenstadt Foto: imago/Willi Schewski

Rendsburg taz | Neue Velorouten, weniger Parkplätze, dafür mehr Sitzbänke rund um das Hafenbecken: Mit solchen Ideen befasst sich Flensburgs Politik seit Jahren. Bis zum Jahr 2030 will die Stadt an der dänischen Grenze den Verkehr „umweltverträglich, nachhaltig und sozial gerecht“ gestalten – bisher aber ist die Stadt mit ihren rund 93.000 Ein­woh­ne­r:in­nen und zahlreichen Pend­le­r:in­nen vor allem vom Auto geprägt.

Nun soll die Bevölkerung über Streitfragen wie Straßensperren und höhere Parkgebühren beraten und entscheiden. Dazu macht Flensburg mit bei dem Modellprojekt „Klima trifft Kommune“. Dabei testen bundesweit vier Orte ein neues Beteiligungsverfahren.

Im ersten Schritt kommen Bürgerräte zusammen, über deren Beschlüsse im zweiten Schritt alle Ein­woh­ne­r:in­nen abstimmen. Mit Flensburg und Pinneberg sind gleich zwei Gemeinden aus Schleswig-Holstein dabei. Die Or­ga­ni­sa­to­r:in­nen erhoffen sich als Nebenwirkung wieder mehr Vertrauen in die Demokratie. Der Haken: Es wird noch einige Zeit dauern, bis Ergebnisse vorliegen.

„Es gehört von Seiten der Politik einiges an Mut dazu, sich auf so ein Verfahren einzulassen“, sagt Rabea Koss. Sie ist Sprecherin des Vereins „Bürger-Begehren Klimaschutz“ (BBK), der gemeinsam mit dem Verein „Mehr Demokratie“ das Modellprojekt anbietet. Beide Gruppen haben Erfahrung mit der Organisation von Direktbeteiligung, aber neu ist auch für sie der verbindliche Bürgerentscheid.

Möglicherweise unerwünscht

Bei früheren Bürgerräten auf Bundesebene, etwa zum Thema Ernährung, stand am Ende nur ein Bündel Empfehlungen. Auf kommunaler Ebene ist direkte Demokratie möglich, birgt aber Risiken: „Es kann sein, dass etwas rauskommt, das die Politik nicht geplant hatte“, sagt Koss.

Allerdings wird in der Regel nicht um grundsätzliche Fragen, sondern über lokale Details entschieden, und am Ende kann die Politik noch umsteuern. In Flensburg steht der Verkehr im Mittelpunkt. In Pinneberg ist das Thema etwas weiter gefasst: Es soll um Klimaschutz und Klimaanpassung gehen. Die dritte beteiligte Kommune ist Osterburg in Sachsen-Anhalt. Auch dort soll sich der Bürgerrat mit Verkehrsfragen befassen. Der vierte Platz ist noch frei.

Losgehen wird es in Pinneberg im Frühjahr 2025. Der Bürgerentscheid soll zusammen mit der Bundestagswahl im Herbst stattfinden. Flensburg hat einen noch weiteren Zeitrahmen: Erst 2027, zusammen mit der nächsten Landtagswahl, soll die Entscheidung über die Beschlüsse des Bürgerrats fallen. Vereinssprecherin Rabea Koss findet es sinnvoll, Bürgerentscheide an eine reguläre Wahl zu koppeln. Ziel ist einerseits eine möglichst hohe Beteiligung, andererseits, die Kosten im Rahmen zu halten.

Finanziert wird der Modellversuch, der auch wissenschaftlich begleitet wird, durch die Robert-Bosch-Stiftung und die Postcode-Lotterie. Damit erhalten die beteiligten Kommunen rund die Hälfte der Kosten, die das Beteiligungsverfahren verschlingt. Im Fall Flensburgs geht es um insgesamt rund 100.000 Euro, von denen „Klima trifft Kommune“ 50.000 Euro übernimmt.

In Flensburg steht der Verkehr im Mittelpunkt, in Pinneberg der Klimaschutz

Gebraucht werde das Geld für Moderation, die Vorträge von Ex­per­t:in­nen und Ausgleichsgeld für die Beteiligten, wenn sie wegen des Ehrenamts im Bürgerrat auf Lohn verzichten müssen, erklärt Koss. Andere brauchen Dolmetscher:innen, eine Kinderbetreuung für die Sitzungszeiten oder einen Laptop für Online-Meetings.

Teuer ist auch das Auswahlverfahren der 30 Beteiligten. Am Anfang werden Personen aus dem Melderegister ausgelost und angeschrieben, aber es gilt zu gewährleisten, dass alle Bevölkerungsgruppen zum Zuge kommen. Ein Weg ist, an die Türen der Ausgelosten zu klingeln: „Manche Leute schmeißen Briefe weg oder glauben nicht, dass sie wirklich gemeint sind“, sagt Koss. „Aber wir suchen eben keine Fachleute, sondern Menschen mit Alltagserfahrung.“

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1 Kommentar

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  • Das was hier in leicht abwertendem Ton als "die Politik" bezeichnet wird, sind - im Gegensatz zu Bürgerräten - demokratisch gewählte Gremien und Funktionsträger.

    Auf kommunaler Ebene sind das überwiegend Menschen, die ehrenamtlich sehr viel Zeit einbringen, um sich für uns in unseren Gemeinden zu engagieren. In den gewählten Gremien geht es um mehr, als um Forderungen aufzustellen. Da müssen unterschiedliche Interessen abgewogen werden, man muss Kompromisse und Konsens finden und die Finanzen im Auge haben. Das ist viel mehr, als Bürgerräte leisten können.

    Ich verstehe nicht, warum man daneben noch ein Gremium braucht, das weder demokratisch legitimiert ist, noch Entscheidungen treffen kann. Stärken wir lieber diejenigen, die sich jetzt schon in den der Kommunalpolitik engagieren.