Pro-Palästina-Bewegung: Eine Entfremdungsgeschichte
Akteure der propalästinensischen Bewegung bestreiten eine Radikalisierung. Stattdessen kritisieren sie die einseitige Rolle des Staates.
Seit dem Angriff der Hamas auf Israel vor einem Jahr und dem seitdem anhaltenden israelischen Militäreinsatz im Gazastreifen ist Berlin Hotspot der Nahost-Proteste. 693 angemeldete Versammlungen zum Thema gab es zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 23. September dieses Jahres. 339 hatten eine propalästinensische Ausrichtung.
Im Raum steht die Frage: Radikalisiert sich die Palästina-Bewegung? Das ZDF konstatierte jüngst, sie sei militanter geworden. Und der Tagesspiegel-Reporter Sebastian Leber äußerte in einem Video bei X gar, er würde ja über moderate Palästina-Demos berichten, nur gebe es die nicht.
Die Berliner Polizei sagt auf Anfrage, sie könne keine solche Radikalisierung erkennen. Doch ganz so einfach ist das nicht zu beantworten. Die Palästina-Bewegung besteht aus vielen verschiedenen Organisationen, das Gros der Demonstrierenden sind Einzelpersonen, die keiner Gruppe zugeordnet werden können. Diese Vielfältigkeit macht es schwer zu analysieren, wie sich „die Bewegung“ entwickelt. Wenn man sich umhört, heißt es jedoch von vielen Gesprächspartnern: Es sei gerade diese Vielfältigkeit, die Radikalisierung verhindere.
Nicht generell gewaltvoll
„Eine Radikalisierung im Sinne, dass zu Gewalt aufgerufen oder gegriffen wird, kann ich nicht erkennen“, sagt Ahmed Abed, Fraktionsvorsitzender der Linken in der Neuköllner BVV, der selbst Teil der Bewegung ist. Als Anwalt vertritt er auch Demonstrierende, denen die Polizei Übertretungen des Versammlungsrechts vorwirft. „Da scheren Einzelne aus. Es gibt wöchentliche Demonstrationen mit monatlich zehntausenden Teilnehmerinnen“, so Abed. Er findet: Die Proteste seien erstaunlich friedlich, insbesondere angesichts der großen Repression. „Es gibt kaum eine Demo ohne Verletzte durch die Polizei.“
„Deutschlandweit halten sich die meisten Leute, die sich an Pro-Palästina-Demos beteiligen, für Anhänger des demokratischen Spektrums, die auf dem Boden des Grundgesetzes stehen“, sagt der Islamwissenschaftler Patrick Möller. Bei einigen Demos seien selbst die Parolen mit der Polizei abgesprochen – zumindest von den Organisatoren. „Dass Organisatoren letztlich keinen Einfluss darauf haben, wer zu einer Demo kommt, ist nun mal Fakt“, so Möller. Störenfriede könnten erst im Verlauf einer Demo ausgeschlossen werden.
Möller beobachtet drei unterschiedliche Strömungen in der Bewegung: Es gebe einerseits die palästinensische Nationalbewegung an sich. In Deutschland und insbesondere in Berlin lebt eine der größten palästinensischen Diasporen Europas. Politisch sind die meisten organisierten Gruppen eher dem linken Spektrum zuzuordnen oder sich um Menschen handelt, denen es tatsächlich primär in erster Linie ausschließlich um Palästina geht. Dann gebe es linke bis linksradikale, oft kommunistische Gruppen, die ihren Einsatz für Palästina als Teil einer übergeordneten politischen Ideologie sehen. Diese zwei Strömungen überlappen sich und rufen teilweise gemeinsam zu Demos auf.
Daneben gibt es noch islamistische Gruppen, die in zwei Kategorien unterschieden werden sollten. Bei ersterer Gruppe handelt es sich um Islamisten, die ihre Vorstellungen einer islamischen Gesellschaft im Rahmen eines Nationalstaates Palästina umsetzen wollen. Dabei ist nicht ausgemacht, das nationalpalästinensische Islamisten ich automatisch abkapseln von anderen Palästina-Kundgebungen, die nicht zwangsläufig ausschließlich islamistisch orientiert sind.
Das andere Spektrum der Islamisten umfasst nicht-nationalpalästinensische Gruppen wie die verbotene Hizb ut-Tahrir oder Muslim Interaktiv. Diese lehnt explizit die Idee eines palästinensischen Nationalstaates ab und will stattdessen Palästina zum Teil eines globalen Kalifats machen. Bewegungen aus dem ideologischen Umfeld der verbotenen Hizb ut-Tahrir veranstalten zwar eigene Demos, etwa Kundgebungen in Essen und Hamburg, die viel Aufmerksamkeit erhielten, weil dort für ein Kalifat geworben wurde. Doch genau das ist es, was sie zu Außenseitern in der Palästina-Frage mache.
Auf ihren Demos versuchen sie mitunter, Geschlechtertrennung durchsetzen. Damit kommen sie bei der Palästina-Bewegung, die vor allem von Linken geprägt ist und in der Frauen und queere Menschen überproportional vertreten sind, schlecht an. „Manchen Islamisten – wie der Hizb ut-Tahrir – sind die Anliegen der Palästinenser herzlich egal; sie benutzen das Thema nur, um unter Muslimen für ihre eigene Ideologie zu werben“, sagt Möller.
Viele Strafverfahren
Nach einem Jahr der Proteste hat die Berliner Staatsanwaltschaft knapp 3.200 Verfahren im Kontext mit dem Nahostkonflikt auf den Tisch bekommen, von denen 103 als antisemitische Hasskriminalität gewertet werden, so zeigt es eine Auswertung vom Wochenende. Viele weitere Fälle liegen bei der Polizei. Einer der bekanntesten Fälle ist die Attacke auf den jüdischen Studenten Lahav Shapira im Februar. Am Samstag sollen aus einer propalästinensischen Demo heraus zwei israelische Touristen attackiert worden sein.
Meist geht es dagegen um Sachbeschädigungen. Am gravierendsten ist wohl der Brandanschlag auf das Gymnasium Tiergarten im Juli, zuletzt brannte es auch an der Israel-solidarischen Kneipe Bajszel in Neukölln. Dazu kommen Sprayereien: Das Bürogebäude des Tagespiegels wurde mit einem roten Dreieck beschmiert, das als Symbol der Hamas gilt, Unbekannte sprayten „Genocide Joe Chiallo“ auf das Wohnhaus des Kultursenators.
1.070 Fälle, die von der Staatsanwaltschaft bearbeitet werden, ereigneten sich im Demo-Kontext. Es gebe einen kriminologischen Grundsatz, merkt Anwalt Ahmed Abed an: „Wo mehr Polizisten eingesetzt werden, da werden auch mehr Straftaten registriert.“ Eingegriffen wird etwa bei dem verbotenen Spruch „From the river to the sea“. Doch die Verbotsverfügung des Bundesinnenministeriums hält vor Gericht meist nicht stand. In Hessen hat das Landesverwaltungsgericht den Spruch wieder zugelassen. In Berlin ist er nach wie vor untersagt. Von den vielen erfassten Fällen führen laut Abed die wenigsten zu Verurteilungen. 90 Prozent von ihnen werden seiner Erfahrung nach von den Gerichten eingestellt.
Wenn man sich unter Aktivisten der Bewegung, Beobachtern und Anwälten umhört, stößt man auf eine Umkehrung des Radikalisierungsvorwurfs: Wer sich wirklich radikalisiere, sei der deutsche Staat. „Radikal ist, das Völkerrecht mit Füßen zu treten und friedliche Demonstrationen zu kriminalisieren“, sagt Abed. Ein Aktivist meint: „Nicht mal Neonazis vom Dritten Weg werden so behandelt.“ So erlaube die Polizei regelmäßig Gegendemonstranten inmitten der propalästinensischen Kundgebungen, mit der Folge, dass es vermehrt zu Beleidigungen und Übergriffen komme.
Die Härte gegenüber den Protesten führe zu einer rasanten Entfremdung vom deutschen Staat. „Ich erlebe eine sehr große Enttäuschung gegenüber einer Politik, die sich weigert, einen konstruktiven Dialog einzugehen“, so der Aktivist. Diese Beobachtung stützt auch Islamwissenschaftler Möller. „Wir sehen vor dem Hintergrund der deutschen politisch-medialen Debatte im Zuge des Israel-Gaza-Krieges einen massiven Vertrauensverlust in der muslimischen Community.“
Möller verweist auf eine Allensbachstudie von 2021, in der die Einstellungen von deutschen Muslimen zur Demokratie untersucht wurde. Die Studie stellte fest, dass Muslime im Schnitt deutlich mehr Zustimmung zur Demokratie an sich und mehr Zufriedenheit über das deutsche demokratische System ausdrückten als die Gesamtbevölkerung. Möller geht davon aus, dass heute ein starker Einbruch in diesem Vertrauensverhältnis festzustellen wäre.
Einige Aktivisten verweisen auch auf die rasante Politisierung von Menschen, die neu zur Bewegung gestoßen sind. Gerade Studierende erlebten oft zum ersten Mal, wie hart der Staat durchgreifen könne, wenn sie Demos oder Protestcamps organisieren. Ebenso wie viele muslimische Menschen erfahren auch sie eine Entfremdung vom deutschen Staat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen