Fernsehdoku zu DDR und Mauerfall: Geschichte einer Ausgrabung
Unser Autor hat wichtiges Archivmaterial aus der Nacht des Mauerfalls gefunden. Um es zeigen zu können, durchlief er eine Sender-Odyssee.
Am Abend des 9. November 89 diskutierten zwischen der Schabowski-Pressekonferenz und dem Fall der Mauer seelenruhig und ahnungslos Kirchenleute, Mitglieder der Blockparteien SED, CDU und LDPD sowie Vertreter der neuen Oppositionsgruppen im Französischen Dom über die Zukunft der DDR. Alle hielten am Sozialismus fest und auch an der DDR. Der Führungsanspruch der SED allerdings wurde massiv in Frage gestellt. Offenbar wusste keiner, dass nur ein paar Meter weiter und ein paar Minuten früher Günter Schabowski (SED) eine neue Reiseregelung verkündet hatte, die „sofort – unverzüglich“ in Kraft treten sollte.
Große Teile der Diskussion hat damals ein Team der ARD aufgenommen. Doch nach dem Fall der Mauer am selben Abend verschwand das Material für Jahrzehnte im Archiv. Erst vor zwei Jahren habe ich es wiedergefunden – zufällig.
Wenn Journalisten etwas finden, das sie gar nicht gesucht haben, nennen sie es wie die Fischer „Beifang“. Ich bin Journalist – und auch Hugenotte. Ich hatte erfahren, dass deren Gemeinde ihr Westberliner Zentrum im Dezember 2022 zugunsten des Französischen Doms aufgibt. Und meine Heimatredaktion, die rbb-Abendschau, wollte einen Beitrag: Die Hugenotten verlassen Halensee.
Erste Frage: Was gibt es im Archiv? Was beim rbb, was beim Deutschen Rundfunkarchiv (DRA), wo die gesamte Produktion der DDR betreut wird? Was in der ARD? Längst sind deren Archive bundesweit vernetzt. Zum Stichwort „Französischer Dom“ ploppte beim NDR ein überraschender Eintrag auf: fünf Kassetten vom ARD-Studio DDR, nie im Zusammenhang gesendete Ausschnitte jener Diskussion vom 9. November, mit Leuten, die kurz danach politische Karriere machten: Lothar de Maizière wurde letzter Ministerpräsident der DDR, Manfred Stolpe und Christine Lieberknecht wurden Ministerpräsidenten in Brandenburg und Thüringen, Thomas Krüger wurde Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung und so weiter.
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Dokument ersten Ranges
Es war eindeutig: Ich hatte ein zeithistorisches Dokument ersten Ranges gefunden. Für meine aktuelle Recherche aber war es nur Beifang. Anfang 2023 habe ich dem rbb vorgeschlagen, das Material zu zeigen. Umgehend kam die Absage: Das sei „special interest“, das sei etwas für einen Zeitungsartikel; Geld habe man ohnehin keins. Es war die erste von insgesamt vier Absagen über eineinhalb Jahre in dem nicht nur von Schlesinger-Affäre und Finanznot gebeutelten Sender.
Da kam die Idee, notfalls allein mit der Französischen Kirche eine Veranstaltung zu machen am authentischen Ort. Deshalb gab es einen Versuch, sich das Material mit der zuständigen rbb-Redaktion mal näher anzuschauen. Doch im Archivnetzwerk der ARD war es nicht mehr zu sehen – der NDR hatte es der ARD-weiten Onlinerecherche entzogen.
Odyssee durch die Sender
Jetzt kam Peter Kolano ins Spiel. Er ist beim rbb der Mann für die weltweite Archivrecherche historischer Stoffe. Er versuchte, das Material beim NDR loszueisen. Doch der NDR lehnte ab: Ungesendetes Material unterliege nicht dem Programmaustausch der ARD. Eine Auskunft, die Kolano noch heute empört. Das ARD-Studio DDR war eine Gemeinschaftseinrichtung. Zufällig hatte zuletzt der NDR die Federführung. Als das Studio aufgelöst wurde, wollte zunächst niemand all die Kassetten aus den Wendejahren haben. Fast wären sie gelöscht worden. Doch die Archivarin verhinderte das. Das Material kam nach Babelsberg zur Verwahrung beim DRA und später zum NDR: ca. 3.500 Bänder, nach Auskunft des NDR bis zu 1.000 Stunden Rohmaterial, inzwischen durchgehend digitalisiert. Kolanos Bemühen aber scheitert.
Empfohlener externer Inhalt
Ich schreibe NDR-Chefredakteur Andreas Cichowicz direkt an. Er immerhin gibt das Material vom 9. November sofort frei. Wer aber ist darauf zu sehen? Mit Christoph Wunnicke hatte ich einen versierten DDR-Historiker im Boot, aber auch er kennt nicht alle Redner. Immerhin: Einer hatte gesagt, er käme aus der CDU Nebra. Also einen Screenshot an die örtliche CDU gemailt. Einmal, zweimal. Keine Reaktion. Ich bitte beim Naumburger Tageblatt um Hilfe.
Redakteurin Constanze Matthes treibt einen Ex-Kollegen auf, der den Gesuchten zweifelsfrei identifiziert: Es war Hans-Jörg Ulrich, der spätere Landrat des Burgenlandkreises. Dieser CDU-Mann hatte in den Kirchsaal gerufen, dass der Ruf der CDU nicht viel besser sei als der Ruf der SED – „und das mit Recht!“ Er forderte, dass in der Verfassung der DDR hinter „ist ein sozialistischer Staat“ ein Punkt gesetzt werden sollte. Die Passage zum Führungsanspruch der SED sollte raus. Nicht mal die Mitglieder der SED, die an diesem Abend – ungewöhnlich genug – in der Kirche, einer sogar auf der Kanzel, sprachen, sprangen noch für den Führungsanspruch ihrer Partei in die Bresche.
„Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“
Es war Stolpe, der der Frage nach dem Zukunftsmodell DDR die Frage „Sozialismus – Fragezeichen oder Ausrufezeichen“ hinzufügte. In dem Filmmaterial gibt es einen unbrauchbaren Schnipsel von einem „Doktor Schwabe“, der als prominenter Katholik eingeführt wurde. Hans-Hermann Hertle, akribischer Chronist des Mauerfalls, hatte mich schon auf Erinnerungen eines Stephan Schwabe hingewiesen. Das Archiv des Erzbistums Berlin ermittelt, dass dieser Experimentalphysiker von der Humboldt-Uni einen katholischen Akademikerkreis gebildet hatte. Auch Konrad Weiß von Demokratie Jetzt war Katholik.
Doch dominant am Abend waren Protestanten: Stolpe war Konsistorialpräsident, Lothar de Maizière Vizepräses der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen, Gottfried Müller Chefredakteur einer evangelischen Wochenzeitung, Thomas Krüger Vikar; Konrad Elmer, Rainer Eppelmann und Werner Krätschell waren Pfarrer wie Christine Lieberknecht, die sich in scharfem Ton dagegen verwahrte, dass die „DDR Müllkippe der Bundesrepublik Deutschland ist“. Bei der Massendemonstration auf dem Alex fünf Tage zuvor hatten vor allem Kulturleute wie Stephan Heym, Christa Wolf, Jan Josef Liefers gesprochen – und nur wenige wurden politisch wichtig wie Marianne Birthler, Gregor Gysi oder Lothar Bisky. Im Französischen Dom war es umgekehrt: Hier sprach die politische Elite von morgen. Vor allem die sogenannten Reformer aus der Ost-CDU machten Karriere auf jeder Ebene.
Inzwischen hatte ich weitere Absagen, auch vom mdr, aus dessen Sendegebiet ja mehrere Akteure kamen. Erst im Frühjahr drehte sich der Wind: rbb24, Radio 3 und Gabriele von Moltke, Leiterin der „Abendschau“, zeigten Interesse. Im Mai gab Chefredakteur David Biesinger sein Okay. Im September bekam ich zwei Tage, um das Material zu schneiden. Jetzt steht es in der ARD-Mediathek: „Eine bessere DDR – Utopien aus der Wendenacht – 9. November 1989 im Französischen Dom“. Der Film wird am 17. Oktober auf einer ausgebuchten Veranstaltung im Französischen Dom gezeigt und mit Zeitzeugen wie Lieberknecht und Marianne Birthler diskutiert.
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