Israelische Offensive auf Gaza: Vertreiben und abriegeln

Die israelische Armee weitet die Kämpfe im Norden des Gazastreifens massiv aus. Dahinter könnte eine extreme Taktik stecken.

Viele Personen in einem Kleinbus.

Samt Katze und Matratze: Palästinenser flüchten am Samstag aus der Stadt Dschabalia im nördlichen Gazastreifen Foto: Mahmoud Issa/Middle East Images/imago

Jerusalem taz | Während die Welt auf den Krieg im Libanon schaut, hat die israelische Armee im Norden des Gazastreifens eine große Offensive gestartet und am Wochenende ausgeweitet. Palästinensische Rettungskräfte berichteten von mindestens 29 Getöteten alleine zwischen Samstag und Sonntagmorgen. Die von Israel ausgerufene Evakuierungszone wurde mehrfach ausgedehnt und erstreckt sich nun auf rund die Hälfte des nördlichen Küstenstreifens.

Die israelische Armee teilte mit, mehr als 20 „Terroristen“ bei Feuergefechten und Luftangriffen getötet zu haben. Der Einsatz solle einen „Wiederaufbau“ der Hamas-Strukturen dort verhindern. Auf Bildern von Nachrichtenagenturen aus Dschabalia sind auch mehrere Kinderleichen zu sehen.

Das Vorgehen der israelischen Armee könnte im Zusammenhang mit dem sogenannten Plan der Generäle stehen, einer von einer Gruppe hochrangiger Ex-Offiziere bereits im April vorgeschlagenen Taktik, die in den vergangenen Wochen in Israel diskutiert wurde. Der Vorschlag des früheren Nationalen Sicherheitsberaters Giora Eiland und anderen sieht vor, zunächst alle Zivilisten aus dem Norden Gazas zu vertreiben.

Anschließend soll das Gebiet zur „geschlossenen Militärzone“ erklärt und von jedem Nachschub abgeriegelt werden. Verbliebene Hamas-Kämpfer und Zivilisten hätten dann die Wahl, erläuterte Eiland in einem Video von Anfang September: „Sich zu ergeben oder zu verhungern.“ Regierungschef Benjamin Netanjahu erwog den Plan laut Medienberichten Ende September zusammen mit anderen Vorschlägen und bezeichnete ihn dem israelischen Sender Kan zufolge als „sinnvoll“. Vieles deutet darauf hin, dass die Armee zumindest Teile davon nun in die Tat umsetzt. Die Armee antwortete auf eine Nachfrage bis Redaktionsschluss nicht.

Versorgung kaum noch möglich

Zehntausende sind seit vergangener Woche aus ihren Unterkünften geflohen. Ein großer Teil der Bewohner aber will den Norden nicht verlassen. Der als „humanitäre Zone“ ausgewiesene Küstenstreifen um Al-Mawasi bei Chan Yunis ist bereits jetzt so überfüllt, dass laut Hilfsorganisationen eine Versorgung der Menschen kaum noch möglich ist. Viele fürchten, wegen wiederholter Luftangriffe auf die Schutzzone, auch dort nicht sicher zu sein. Andere bleiben, weil verletzte oder alte Angehörige nicht in der Lage sind zu gehen. Die Hamas warnte die Bewohner in einer eigenen Mitteilung davor, in den Süden zu fliehen. Nach UN-Schätzungen hielten sich zuletzt noch rund 400.000 der einst 1,4 Millionen Bewohner im Norden des Küstenstreifens auf.

Das UN-Welternährungsprogramm WFP teilte mit, die Zugänge nach Nordgaza seien geschlossen. Seit dem 1. Oktober habe keine Nahrungsmittellieferung das Gebiet erreicht. Ein Angriff der Armee habe die einzige noch funktionierende Bäckerei im Norden zerstört. Die Offensive trifft eine Bevölkerung, die nach einem Jahr Krieg oft bereits mehrfach vertrieben wurde.

Laut dem UN-Nothilfebüro OCHA wurden zusätzlich zu der Blockade seit dem Hamas-Angriff am 7. Oktober 2023 rund 68 Prozent der Anbauflächen in Gaza zerstört. Die medizinische Versorgung liegt nach zahlreichen Angriffen gegen Krankenhäuser und medizinisches Personal am Boden. Eine UN-Untersuchungskommission kam vergangenen Donnerstag zu dem Schluss, Israels Vorgehen sei eine „vorsätzliche Strategie zur Zerstörung des Gesundheitssystems“ und ein „Kriegsverbrechen“. Israel wies den Vorwurf zurück. Die Hamas nutze zivile Infrastruktur zu militärischen Zwecken.

Die neue Offensive gefährdet auch die zweite Runde der Polio-Impfkampagne der Weltgesundheitsorganisation WHO, die am Montag starten soll. Im August war in Gaza erstmals seit 25 Jahren wieder ein Fall von Kinderlähmung aufgetreten. Die UN-Organisation rief die Konfliktparteien auf, für die notwendige zweite Impfdosis für rund 590.000 Kinder unter zehn Jahren erneut Kampfpausen einzuräumen.

Indes eskaliert an Israels Nordgrenze ein Streit zwischen der israelischen Führung und der UN-Friedenstruppe Unifil. Netanjahu rief UN-Generalsekretär António Guterres am Sonntag erneut dazu auf, die Blauhelmsoldaten abzuziehen. Verteidigungsminister Joav Gallant hatte der Hisbollah vorgeworfen, bewusst in der Nähe von Unifil-Einrichtungen zu agieren.

Die Friedensmission hatte Israel in den vergangenen Tagen vorgeworfen, ihre Stellungen beschossen zu haben. Dabei waren mindestens vier Angehörige der Mission verletzt worden, die in dem Gebiet mit rund 10.000 Soldaten aus 50 Ländern die Einhaltung der UN-Resolution 1701 aus dem Jahr 2006 überwachen soll. Der Beschuss wurde von 40 Staaten, darunter Deutschland, verurteilt. Israel weitete seine Offensive im Libanon am Sonntag aus. 21 weitere Gemeinden wurden aufgerufen, sich nördlich des Awali-Flusses zu begeben.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.

Ihren Kommentar hier eingeben