Dirigentin Joana Mallwitz: „Je weniger Worte, desto besser“
Chefdirigentin Joana Mallwitz hat das große Glück, dem nachzugehen, was sie liebt. Ein Gespräch über musikalische Vorstellungskraft und Zeichensprache.
taz: Frau Mallwitz, wie war Ihr erstes Jahr in Berlin? Ist es so gelaufen, wie Sie es sich erhofft hatten?
Joana Mallwitz: Es war fantastisch. Schon beim Eröffnungskonzert, als das Konzerthausorchester und ich zusammen auf der Bühne standen, wurden wir so herzlich und warm empfangen. Ja, es hat sich eingestellt, was ich mir gewünscht hatte. Ich habe ziemlich viel dirigiert in dieser ersten Saison – im letzten Herbst haben das Orchester und ich uns über mehrere Wochen fast täglich gesehen, und das mit ganz verschiedenem Repertoire. Das hatte eine schöne Natürlichkeit, und wir haben uns sehr schnell sehr gut kennengelernt.
taz: Woran merkt man eigentlich als Dirigentin, ob man einen guten Draht zum Orchester hat?
Mallwitz: Das Dirigieren ist eine der schnellsten und komplexesten Arten, wie man kommunizieren kann. Das kann man mit Worten gar nicht beschreiben, wie schnell da zwischen so vielen Menschen Impulse hin- und hergehen. Daher gilt eigentlich jedes Mal, wenn man zu einem neuen Orchester kommt, dass man sich auf eine gewisse Art sehr schnell recht nah kennenlernt. Beim Musikmachen geht es ja um Emotionen, man muss sich öffnen, obwohl man vielleicht persönlich noch nichts voneinander weiß.
Lehrjahre
Joana Mallwitz wurde 1986 als Tochter zweier PädagogInnen im niedersächsischen Hildesheim geboren. Mallwitz machte von klein auf Musik und bekam im Alter von 13 Jahren einen der begehrten Plätze in der Hochbegabtenklasse der Musikhochschule Hannover.
Wanderjahre
Mit 19 wurde sie als Solo-Repetitorin mit Dirigierverpflichtung ans Theater Heidelberg engagiert, mit 27 wurde sie Generalmusikdirektorin in Erfurt und war damit die europaweit jüngste Person in einer solchen Position. 2018 wechselte Mallwitz ans Staatstheater Nürnberg, wo sie bis 2023 tätig war. Zahlreiche Engagements bei anderen Orchestern machten sie auch international bekannt. 2019 wurde sie von der Zeitschrift Opernwelt zur Dirigentin des Jahres gewählt.
Konzerthausjahre
Seit der Saison 2023/24 ist Mallwitz Chefdirigentin des Konzerthausorchesters Berlin und damit die erste und bisher einzige Frau, die in der Hauptstadt einem der großen Symphonie- und Opernorchester vorsteht.
taz: Sie meinen, Kommunikation findet hauptsächlich auf einer nonverbalen Ebene statt?
Mallwitz: Ja. Das hat ganz viel zu tun mit Offenheit, und die gibt es nur durch Vertrauen. Wenn man diese beiden Dinge spürt, dann ist schon einmal sehr viel sehr schön. (Mallwitz lacht ein wenig.) Wahrscheinlich ist beim Dirigieren und auch bei der Probenarbeit all das am klarsten, was ohne Worte vermittelt werden kann. Ein Orchester versteht sehr schnell. Die kleinsten Entscheidungen bemerkt man ja in dem Moment, wo ich sie dirigiere. Falls ich mich zum Beispiel spontan entscheide, einen Akzent etwas schärfer zu nehmen oder ein Piano mehr zu einem Pianissimo zu machen. Je weniger Worte man braucht, desto besser.
taz: Also sprechen Sie nicht über Ihr Konzept, sondern machen alles mit Ihren Händen?
Mallwitz: Man kann Musik ja nicht erklären.
taz: Aber musikalische Details sind doch erklärbar.
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Mallwitz: Ja, genau. Ich gehe im Prinzip den umgekehrten Weg wie der Komponist. Der hatte diese große Idee, die er in lauter kleine Noten gebracht hat. Ich wiederum erarbeite mir die Partitur vom Kleinsten zum Größten und versuche bei jeder einzelnen Note genau zu schauen, wo sie steht, um von dort aus wieder zu dieser großen Idee zu kommen. Im Moment der ersten Probe mit dem Orchester versuche ich durch Körperlichkeit – durch Bewegung, Mimik, Atem – diese große Idee zu vermitteln. Und erst wenn ich merke, es kommt nicht das zurück, was ich meine, dann hilft es, nun eben doch mit Worten das eine oder andere Detail zu erklären; und dann rücken sich die Puzzlesteinchen zurecht. Man kann jedes Stück theoretisch auf tausend verschiedene Arten spielen. Es geht nicht darum, dass meine Idee die einzig richtige ist, aber sie muss in sich stimmen; und wenn die Puzzlesteinchen zusammenpassen, dann spürt ein Orchester das.
taz: Sie haben mal gesagt, dass Sie beim Einstudieren einer Partitur zunächst einmal nur mit den Noten arbeiten. Kann ich mir ganz laienhaft vorstellen, dass Sie wirklich alles in Ihrem Kopf hören, was da steht?
Mallwitz: Ja, schon. Die Fähigkeit, etwas zu lesen und dazu die Musik zu hören, also Musik zu lesen und sie dabei innerlich zu hören, ist die Fähigkeit, die ein Dirigent am allermeisten ausbilden muss. Und sein Leben lang trainieren.
taz: Haben Sie eigentlich das absolute Gehör?
Mallwitz: Ja, ich habe es, aber das ist keine notwendige Zutat, die es unbedingt braucht, um ein toller Dirigent zu sein.
taz: Aber bestimmt ist es beim Partiturlesen sehr hilfreich …
Mallwitz: Also, ich finde es hilfreich, aber es hat nichts mit dem zu tun, was ich meine. Der Dirigent muss trainieren, dass das innere Ohr sowohl analytisch als auch fantasievoll arbeiten kann. Alles, was wir erarbeiten, entsteht ja zuerst innerlich in der Vorstellungskraft, das ist der größte Teil unserer Arbeit. Das sind alles Landschaften, und Welten, und Noten, und Klänge, die erst einmal alle nur hier sind… (Mallwitz formt mit den Händen eine unsichtbare Landschaft um ihren Kopf herum.) … und die wir versuchen müssen, uns so genau vorzustellen und zu planen, dass wir das in den Klang übersetzen können, der nachher im Saal ist.
taz: Sie haben das gerade wunderschön dreidimensional gezeigt. Wahrscheinlich nehmen Sie Ihre Partituren beim Lesen dann auch dreidimensional wahr?
Mallwitz: Ja, natürlich. Wenn ich ein Werk studiere, stelle ich mir vor, in welchem Saal mit welchem Orchester ich das zum Klingen bringen möchte. Und es bringt dabei überhaupt nichts, mir zu merken, dass die Posaunen auf dem Papier unter den Trompeten stehen, sondern ich muss mir bewusst sein, wo die sitzen: Wo kommt der Klang her, wie mischt sich das? Wenn die mit den Hörnern zusammen spielen, sitzen die daneben oder auf der anderen Seite? Und sind die Kontrabässe bei den Celli, oder stehen die hinten? Und so weiter. Das ist es, was man als Dirigent wirklich ausbilden muss.
taz: Wenn Sie einem Stück begegnen, das Sie vor vielen Jahren studiert haben, bleibt eine solche Klangfantasie dieselbe, oder ändert sie sich mit der Zeit?
Mallwitz: Manchmal kann es passieren, das ging mir zum Beispiel letztes Mal mit Schuberts „Unvollendeter Symphonie“ so, dass ich die Partitur angucke und denke, dieses Mal bedeuten die Noten etwas komplett anderes für mich! Alle Details ordnen sich in ein neues Gesamtbild ein, da ist auf einmal ein völlig anderes Grundgefühl für das Stück. Dadurch trifft man dann auch wieder kleine andere Entscheidungen – bei manchen Übergängen oder gewissen Richtungen von Phrasen. Ich muss mit der Analyse so weit kommen, dass ich für die erste Probe oder für eine Vorstellung das Gefühl habe: Für heute muss das so sein, das ist jetzt gerade die einzig mögliche Version. Und ich weiß, in einem halben Jahr wird es ganz anders „genau so“ sein müssen. Aber für heute … Diese Unbedingtheit, die brauche ich im Kopf, damit ich die Kraft habe, das auf das Orchester zu übertragen.
taz: Was bedeutet diese Unbedingtheit denn für die andere Version, von der man vorher genauso überzeugt gewesen ist? Erscheint die im Nachhinein als weniger richtig?
Mallwitz: Ich vergleiche das manchmal mit Beziehungen, die man zu Menschen hat. Jedenfalls wenn es sich um Meisterwerke wie Schuberts „Unvollendete“ handelt. Man lernt ein Stück kennen wie eine Person, und an irgendeinem Tag in der Zukunft sieht man auf einmal eine ganz neue Seite dieser Persönlichkeit. Das ist toll, man begibt sich dann wirklich in die Tiefe. Man reagiert auch aufeinander. Es ist nicht nur so, dass ich das Stück kennenlerne und sehe, was alles in ihm steckt, sondern ich habe manchmal auch das Gefühl, dass das Stück mich kennenlernt.
taz: Wie macht es das denn?
Mallwitz: Das Stück kann mich tragen, mich retten, wenn ich denke, ich verliere gerade den Boden unter den Füßen, und ich selbst kann das Stück tragen durch Lenken und Leiten, das fühlt sich wirklich an wie ein Gegenüber. Wie reagiert das Stück, wenn ich frisch in die Probe gehe, was tut es, wenn ich verzweifelt in die Probe gehe – oder wenn ich zweifelnd in die Probe gehe? Das ist etwas ganz Lebendiges für mich.
taz: Dass Sie eine besondere musikalische Begabung haben, war schon in Ihrer Kindheit klar. Im Film „Momentum“, den der Regisseur Günter Atteln über Sie gedreht hat, sieht man Sie als sehr kleines Mädchen am Klavier mit Ihrer Mutter sitzen. Dann folgt ein Bild von Ihnen als Teenager in der Frühstudierendenklasse für Hochbegabte in Hannover. Was ist zwischen dem Alter von 3 und 13 Jahren passiert? Haben Ihre Eltern Sie immer zum Üben gezwungen?
Mallwitz: Nee, meine Eltern haben mich gezwungen, von 15 bis 18 Uhr nicht zu üben, da musste ich raus in den Garten. Das war in meiner Kindheit eine eiserne Regel.
taz: Sonst hätten Sie permanent Musik gemacht?
Mallwitz: Das Klavier war immer da, das war irgendwie ganz natürlich. Ich habe auch lange Geige gespielt, das hatte ich mir als kleines Kind gewünscht, ich fand, Klavier kann ich ja immer spielen, aber als Lehrer will ich jetzt einen Geigenlehrer kriegen. Offiziell habe ich erst mit sechs mit Klavierunterricht angefangen, aber da hatte ich mit meiner Mutter schon einiges gelernt. Von 3 bis 13 war ich ein ganz normales Kind, das zur Schule geht, Freunde hat und zwischendurch auch Musik macht. In die Kindermusikerwelt bin ich dann reingewachsen durch die Wettbewerbe von „Jugend musiziert“.
taz: Mit Geige oder Klavier?
Mallwitz: Mit allem, auch mit Kammermusik. Für die Wettbewerbe hat man immer seine Musikfreunde wiedergetroffen, das war sehr schön. Aber es war als Kind nie mein Traum, zum Beispiel Konzertpianistin zu werden, ich habe einfach nur gern Musik gemacht. Und dieses Institut für Frühförderung in Hannover – da hatte ich einfach eine große Neugier. Als wir mich da angemeldet haben, wussten wir gar nicht genau, was das eigentlich ist.
taz: Wer kam denn auf die Idee?
Mallwitz: Ich selbst hatte die Annonce in der Zeitung entdeckt. Da habe ich zu meinen Eltern gesagt, das hier finde ich spannend, aber das ist in Hannover, ist das vielleicht zu weit weg? Und dann haben sie gesagt, na ja, gut.
taz: Wie weit ist es genau von Hildesheim nach Hannover?
Mallwitz: Für Berliner Verhältnisse ist das nichts, vielleicht eine halbe Stunde. Ich hab mich freitags nach der Schule in den Zug gesetzt und war am Wochenende immer in Hannover. Da habe ich symphonische Musik, Orchestermusik, Oper kennengelernt, das war für mich eine ganz neue Welt. Und plötzlich wusste ich: Huch, Mist, ich will, nein, ich muss unbedingt Musikerin werden! Ich will einen Beruf haben, wo ich ganz viel mit diesen Büchern hier zu tun habe, ich will immer in diesen Partituren lesen. Und so war relativ schnell klar, dass es dann wohl das Dirigieren sein müsste …
taz: Was für eine Art von Abschluss haben Sie denn dort gemacht? Neben dem Abitur?
Mallwitz: Dieses Frühstudium geht über sechs Semester und hat mit dem Hauptstudium nichts zu tun. Und ehrlich gesagt, was wir an Musiktheorie im Frühstudium gemacht haben, dahin kommt man im Hauptstudium normalerweise gar nicht. Da gab es vierstimmige Sätze rauf und runter. (Sie spielt pantomimisch auf dem Tisch Klavier): Dreimal hören, aufschreiben, analysieren! Was wir da an Gehörbildung gemacht haben, das hat mir die wichtigsten Grundlagen für den Beruf gegeben. Nach dem Abitur bin ich dann zum Vollstudium nach Hannover gegangen und habe Klavier und Dirigieren gleichzeitig studiert.
taz: Und das ging so schnell? Sie hatten doch mit 19 schon Ihre erste feste Stelle!
Mallwitz: Die Stelle in Heidelberg wurde mir sogar mit achtzehn schon angeboten, aber da wollte ich noch nicht. Dann haben sie gesagt, na gut, dann komm bitte nächstes Jahr. Mein Studium in Hannover musste ich deshalb im Schnellverfahren machen, ich habe das Dirigierdiplom aber abgeschlossen.
taz: Wann haben Sie eigentlich zum ersten Mal gemerkt, dass die Tatsache, dass Sie eine Frau sind, in Ihrem Beruf eine besondere Rolle spielt? Begleitet das eine dirigierende Frau von Beginn an?
Mallwitz: Ja, das war mir schon klar, als ich als Teenager anfing, mich fürs Dirigieren zu interessieren. Als damals bekanntgegeben wurde, dass Simone Young als erste Frau Chefin in Hamburg werden sollte …
taz: … Simone Young wurde 2005 Intendantin der Hamburger Staatsoper und Generalmusikdirektorin der Philharmoniker Hamburg.
Mallwitz: … da fand ich das total cool und habe alles über sie gelesen, was ich kriegen konnte. Und natürlich war mir auch klar, dass es das ansonsten noch nicht gab; deshalb fand ich es ja so toll. Aber in den letzten zwanzig Jahren hat sich schon sehr viel geändert und weiterentwickelt. Simone Young und andere Kolleginnen haben wirklich auch Eis gebrochen.
taz: Finden Sie es richtig, dass es so etwas wie den „La Maestra“-Dirigierwettbewerb gibt, der 2020 zum ersten Mal stattfand und bei dem nur Frauen gegeneinander antreten?
Mallwitz: Ppphh… (Ausatmen, kurze Pause) Da kann ich nur für mich persönlich sprechen. Für mich macht es nicht so viel Sinn, so zu denken, aber andererseits sehe ich auch, dass wahrscheinlich gewisse Dinge jetzt erst einmal so gemacht werden müssen, damit wir möglichst bald an einem Punkt sind, wo man es dann nicht mehr braucht.
taz: Glauben Sie, dieser Punkt kommt noch zu Ihren Lebzeiten?
Mallwitz: Kann ich nicht sagen. Ich sage oft so ein bisschen scherzhaft, dass ich mich wundere, wie oft ich immer noch die „erste Frau“ bin, und dass ich immer noch und immer wieder darauf angesprochen werde. Denn eigentlich denke ich: Das kann doch nicht sein! Alle machen das doch jetzt schon so lange. Ja, ich wundere mich manchmal wirklich, warum das alles nicht viel schneller geht.
taz: Ihre erste Saison am Konzerthaus Berlin war stark mit der Musik von Kurt Weill verknüpft; außerdem haben Sie eine ganze Reihe von neuen Formaten etabliert. Nach welchen Kriterien planen Sie Ihre Programme?
Mallwitz: Zum einen muss ich bei jedem Werk das Gefühl haben, dass es irgendwie meins ist und ich dazu etwas zu sagen habe. Das ist ja nicht immer so! Und zweitens ist mir wichtig: Wie kombiniere ich verschiedene Stücke? Ich will Programme machen, die vom ersten bis zum letzten Stück eine Art Geschichte erzählen. Das muss gar kein roter Faden sein, es ist eher ein Spannungsbogen, der zu Assoziationen einlädt.
taz: Worauf freuen Sie sich in der neuen Saison besonders?
Mallwitz: Auf sehr vieles! Eine etwas ungewöhnliche Sache, die wir jetzt im Herbst machen, ist ein Konzert, bei dem wir im ersten Teil „4’33“ von John Cage spielen, ein Stück, in dem viereinhalb Minuten lang absolute Stille erklingt, worauf attacca, also ohne Pause, György Ligetis „Atmosphères“ folgt mit Klängen, die sozusagen die Stille des Universums hörbar machen. Und schließlich kommt, auch attacca, in diesen Kosmos eine Ordnung mit Bachs „Fantasie und Fuge in g-Moll“. Das Ganze ist eine Art Experiment. Wir führen das in der ganz großen Orchesterbesetzung auf, und Iveta Apkalna spielt Orgel. Also, generell gilt: Ich muss jedes einzelne Werk, das ich in meine Programme aufnehme, großartig finden. Und ein bisschen muss ich auch in die Zukunft hineindenken. Zum Beispiel möchte ich bei Werken, die mir sehr wichtig sind und bei denen ich in die Tiefe gehen will, vielleicht auch nächstes oder übernächstes Jahr die Möglichkeit haben, sie noch einmal zu dirigieren.
taz: Das heißt, Sie müssen ziemlich langfristig planen.
Mallwitz: Oh ja, derzeit plane ich für 2028.
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