Ausstellung über Berlin der 90er: Dit war Berlin

Häuser mit Einschusslöchern und bröckelnder Putz, Loveparade und überall Baustellen, Kräne und Kohleöfen. So war das, als unsere Autorin dort aufwuchs.

Auf dem Foto wirft ein Mädchen ihrem Spielgefährten, der in dem ehemaligen Todesstreifen steht, einen Ball über die Mauer an der Bernauer Straße zu. (Foto: 19.06.1990)

Diese Zeit riecht nach Kohleöfen und schmeckt nach Fassbrause Foto: imago/epd

Ein kleines Mädchen schaut aus dem Rückfenster eines Autos. Den leicht melancholischen Blick in die Ferne gerichtet, lehnt sie einen Arm gegen die Heckscheibe wie zum Abschiedsgruß. Neben dem Mädchen ein Bürgersteig, auf dem eine weißhaarige Frau zwei Häuserfassaden passiert. Während die eine renoviert in neuem Glanz erscheint, eine Satellitenschüssel als Zeichen der Postmoderne im Fenster, ist der Eingang des Nebenhauses zugemauert: Fenster ohne Glas, Einschusslöcher und bröckelnder Putz.

Die 1997 von Ostkreuz-Fotografin Jordis Antonia Schlösser in Lichtenberg aufgenommene Szenerie ist Teil der Ausstellung: „Träum weiter – Berlin, die 90er“, die sich dem vielleicht aufregendsten Jahrzehnt der Hauptstadt widmet. Zumindest in meiner kindlichen Erinnerung war es das, denke ich, während ich durch die Räume des c/o wandle.

„Kraaaaaan“ möchte ich immer wieder aufgeregt rufen, so wie ich es als kleines Kind machte, wenn meine Mutter und ich quer durch die frisch vereinte Stadt fuhren. Von ihrer Uni in Dahlem nach Pankow, wo es keinen Telefonanschluss und Ofenheizung gab. Eine Achterbahn der Emotionen waren diese Autofahrten, an denen ich wie das Mädchen bei Schlössern an der Autoscheibe klebte und in Ekstase geriet, sobald die Ungetüme aus Stahl vor mir auftauchten. Verschwanden sie wieder hinter einer Häuserschlucht, muss auch mein Blick voll Melancholie gewesen sein.

Als „Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft“ beschreiben die Ku­ra­to­r*in­nen das Berlin der Neunziger. Ich möchte rein in diesen Transitraum, möchte zeitreisen in das, woran ich nur noch bruchstückhafte Erinnerungen habe. M. begleitet mich bei meiner Alltagsflucht. Vor Fotos der Loveparade bleiben wir stehen, schwelgen in Erinnerungen an unsere Eltern, die uns auf den Schultern trugen oder uns Trillerpfeifen verkaufend durch die Menge lotsten.

Nach dem Fall der Mauer 1989 befindet sich die Stadt im Übergang, in einem Transitraum zwischen Vergangenheit und Zukunft. Aufbruchstimmung wie Verlustängste liegen nah beieinander und bilden den Grundton dieser Zeit. Im C/O Berlin vom 14. September 2024 – 22. Januar 2025

Diese Zeit schmeckt nach Fassbrause

Bei Fotos aus der berüchtigten Nachwende-Technoszene lassen wir gedanklich Nächte im „Tresor“ wiederaufleben, auch wenn wir dessen Originalstätte im Keller einer ehemaligen Wertheim-Filiale nicht mehr kennen. „Untsss, untss, umpf, umpf“, hämmert ein imaginärer Technosound in meinem Kopf. Mir fehlt die musikalische Untermalung, ein Sound, der diese fotografische Zeitreise lebendig macht.

Klanglich belebter ist es einen Tag vorher im Ballhaus Ost. „Antikapitalista“, rufen Menschen, wo meine Zeitreise beginnt: in „Helmitropolis“, einer aus Schaumstoff nachgebildeten Utopie des einst größten urbanen Spielplatzes. „Alle machten Theater“, sagen die Darstellenden und rekapitulieren eine Zeit, in der es „chaotisch, aber wunderbar“ war.

Fotoprojektionen füllen die Wände, wieder graubraune Häuserfassaden und ein mit Bitumenbahnen ausgelegtes Dächermeer. Unweit von hier habe ich oft auf einem dieser Dächer gespielt, mit S., deren Vater und andere ein Haus in der Dunkerstraße besetzt hatten. Diese Zeit riecht nach Kohleöfen und schmeckt nach Fassbrause.

Money can't buy us happiness

Die Wandprojektion verändert sich, wie es auch Berlin getan hat. Hochglanzfassaden umringen uns, hier im Ballhaus spiegelt sich die Welt von heute, größtenteils versiegelt und privatisiert. „Die anderen sind reich jetzt und ich kann nicht mehr“, sagt einer der Helmis, der vor all dem Stahl und Beton seltsam aus der Zeit gefallen wirkt.

„Als die Mauer fiel, war das wie ein Orgasmus aus Freiheit und Kreativität, eine Eruption, eine Explosion“. Die Stimme kommt aus meinem iPad und gehört zu einer Serie in der ZDF Mediathek. Zwei Tage unterwegs gewesen, bin ich erschöpft, erlebe die Stadt nun von meinem Sofa aus.

„This is gonna be great“, erzählt von einem Niederländer, der nach Berlin zieht. Berieselung, ohne Anspruch, denke ich mir. Und werde von einer klugen und witzigen Produktion überrascht. „Das ganze Spreeufer war voll mit seltsamen Clubs. Jetzt sind es nur Büros und Luxusappartments“, die Darstellerin in der Szene klingt ähnlich wehmütig, wie ich mich nach meiner Zeitreise fühle.

Draußen zieht die Berliner Nacht vorüber. Bässe wummern. „Money can't buy us happiness. Can we all slow down and enjoy right now?“, dringt die Stimme von Jessie J hoch zu mir in den vierten Stock.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Sophia Zessnik ist seit 2019 bei der taz und arbeitet in den Bereichen Kultur und Social Media. Sie schreibt am liebsten über Alltägliches, toxische Männlichkeit und Menschen im Allgemeinen. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.