Platzeck zur Wahl in Brandenburg: „Diplomatie ist eine heilige Pflicht“

Brandenburgs Ex-Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) über enttäuschte Menschen im Osten und welche Rolle der Ukraine-Krieg im Wahlkampf spielt.

Aus einem Hubschrauber schaut ein Mann auf den Oderdeich im Oderbruch.

Matthias Platzeck begutachtet 1997 die Oderflut Foto: Jochen Eckel/imago

taz: Herr Platzeck, im Moment holt die SPD in Brandenburg in den Umfragen auf, aber die AfD liegt nach wie vor vorn. Was muss Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) tun, damit das Hochwasser für ihn bei den Wahlen am 22. September nicht zum Waterloo wird?

Matthias Platzeck: Das, was er immer tut, vorausschauend und überlegt auf die Situation reagieren. Er hat bereits am Sonntag mit den Landräten, dem THW und der Feuerwehr nötige Maßnahmen vorbereitet. Seine Erfahrungen als früherem Umwelt- und Innenminister kommen ihm dabei zugute.

70, wurde in Potsdam geboren; er hat biomedizinische Kybernetik studiert. In der DDR gründete er die Grüne Liga, war 1990 deren Sprecher am Zentralen Runden Tisch. Er gehörte der Übergangsregierung an, stimmte gegen die Wiedervereinigung. 1995 trat er in die SPD ein. Er war Oberbürgermeister von Potsdam, Umweltminister in Brandenburg und von 2002 bis 2013 Ministerpräsident. Kurz war er SPD-Bundeschef.

Ab 2014 war er Vorsitzender des Deutsch-Russischen Forums.Für seine Haltung, Russland und die Ukraine sollten die Annexion der Krim durch Russland nachträglich völkerrechtlich regeln, wurde er heftig kritisiert. Nach Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 legte er den Vorsitz nieder. Dass ein russischer Präsident im 21. Jahrhundert dazu fähig sei, habe er nicht geglaubt, sagte er.

Machen Sie sich Sorgen um Brandenburg?

Platzeck: Ich bin nach wie vor optimistisch, dass die Sozialdemokratische Partei mit Dietmar Woidke und wegen Dietmar Woidke am 22. September die Wahl gewinnt. Die Bilanz des Ministerpräsidenten ist sehr gut. Unter den ostdeutschen Ländern steht Brandenburg exzellent da. Es ist das Land mit dem größten Wirtschaftswachstum. Die Regierung Woidke hat hier in den letzten fünf Jahren deutlich geliefert. Und er hat auch eine sehr gute persönliche Bilanz. Alle Umfragen sagen, dass er mit großem Abstand der beliebteste Politiker in diesem Land ist.

taz: Sie selbst waren vor Woidke Ministerpräsident von Brandenburg, davor waren Sie auch Umweltminister. Bundesweit bekannt geworden sind Sie 1997 bei der Oderflut als allseits präsenter „Deichgraf“, der sich um die Menschen kümmert. Woidke gilt als eher spröde und bürokratisch, alles andere als charismatisch, geschweige denn als Kuscheltyp. Wie erklären Sie sich seine Popularität?

Platzeck: Bei Wahlveranstaltungen, an denen ich in den letzten Tagen zusammen mit ihm teilgenommen habe, war deutlich spürbar, dass er ein großes Vertrauen bei den Menschen genießt. Kuscheltyp hin oder her, Vertrauen ist eine der wichtigsten Währungen, die wir überhaupt haben.

taz: Knapp 35 Jahre nach dem Mauerfall sind etliche Bücher über Ostdeutschland erschienen. Mit allerhand Thesen über mögliche Gründe für den großen Zuspruch der AfD im Osten. Was sagen Sie?

Platzeck: Da spielen viele Dinge rein, unter anderem die nicht selten überhebliche Debatte über Ostdeutschland. Und natürlich gibt es in der ostdeutschen Gesellschaft Nachwirkungen, was den totalen Zusammenbruch der 90er und 2000er Jahre angeht. Die Deindustrialisierung. Die Abwanderung. Wenn Sie 1,5 Millionen bis 2 Millionen Menschen, vorwiegend junge Menschen verlieren, wird eine Gesellschaft, die diesen Verlust verkraften muss, nicht per se mutiger und zuversichtlicher. Das ist erst mal zu verarbeiten. Und wenn Sie abheben auf die ja geringere Achtung, die demokratische Institutionen im Osten Deutschlands genießen, wie Umfragen zeigen, hat das natürlich Ursachen.

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taz: Die wären?

Platzeck: Eine der Hauptursachen ist die totale Unterrepräsentanz von Ostdeutschen in ebendiesen vielen Institutionen. Damit geht natürlich auch eine Haltung einher: Sind ja nicht meine Institutionen. Nehmen Sie nur die Gerichte, die Hochschulen oder die Medien – überall sind die Spitzenposten mit Westdeutschen besetzt.

taz: Was wäre da noch?

Platzeck: Wir haben eine völlig ungleiche Vermögensverteilung. Ein Großteil der Immobilien, viele Wälder und Äcker und was auch immer gehört mittlerweile Westdeutschen. Unzählige zahlen ihre Mieten nach Westdeutschland. Wenn Sie eine Ferienwohnung an der Ostsee mieten, zahlen Sie die Mieten oft nach Nordrhein-Westfalen. Bei Erbschaften und Vermögen stellt der Osten nur einen Bruchteil. Die Abschlüsse von Ostdeutschen mussten meist nachgeholt werden, was natürlich eine Abwertung ist. Wenn eine kleinere Gesellschaft einen Systemwettbewerb verloren hat, wäre es klug und erfolgversprechend gewesen, sie bei der Vereinigung mit einer größeren Gewinnergesellschaft zumindest auf die Dinge abzuklopfen, die in den 40 Jahren DDR ganz gut funktioniert haben, und die mit in das gemeinsame Deutschland zu nehmen.

taz: Was hätte das sein können?

Platzeck: Ich denke da an die Stellung der Frauen in der Gesellschaft, Ganztagsschulen, Kitas und Polikliniken, die wir heute verschämt nicht mehr Polikliniken nennen, sondern medizinische Versorgungszentren. Es darf ja nicht nach Osten klingen. Strukturelle Elemente, die vernünftig waren, hätte man ihrer ideologischen Gehalte entkleiden und mitnehmen müssen. Ist alles vermieden worden. Man hatte gewonnen, triumphierte, und dann wundert man sich heute, dass das nachwirkt. Dieser Erfahrungshintergrund, der auch die DDR-Vergangenheit einschließt, hat dazu beigetragen, dass es heute eine deutlich ausgeprägte ostdeutsche Identität gibt, die viele Menschen in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg verbindet.

Am 22. September wählt Brandenburg einen neuen Landtag. Seit mehr als elf Jahren regiert Ministerpräsident Dietmar Woidke, zurzeit in einer rot-schwarz-grünen Koalition. Woidke tritt zum dritten Mal als SPD-Spitzenkandidat an. Bei der Wahl setzt er alles auf eine Karte. Wenn die AfD stärkste Kraft wird, sei er weg.

In einer Umfrage vom 9. bis 11. September sah infratest die AfD mit 27 Prozent vorn, aber die SPD ist den Rechtspopulisten mit 26 Prozent dicht auf den Fersen. CDU 16 %, BSW 13 %. Grüne und Linke könnten an der Fünfprozenthürde scheitern.

taz: Aber warum kommt das erst jetzt zum Vorschein und warum haben in Thüringen 38 Prozent der Jungwähler AfD gewählt?

Platzeck: Wer individualpsychologisch Verletzungen und Missbräuche erlitten hat, der liegt auch selten schon ein Vierteljahr später beim Psychologen auf der Couch, das kommt erst später hoch. Gesellschaftliche Traumata werden oft über Generationen weitergegeben. Der heimische Küchentisch schlägt jede andere Bildungs- und Informationseinrichtung.

taz: Was folgt daraus?

Platzeck: Damit müssen wir umgehen und zumindest den Versuch starten. Das beginnt übrigens immer mit einem offenen ehrlichen Gespräch, was wir viele Jahre Ost-West nicht geführt haben. Und, das ärgert mich auch als überzeugten Ostdeutschen, dass der Osten immer dann Mode wird, wenn es solche Wahlergebnisse gibt. Dann trommelt man alles zusammen und sagt: Was ist denn da los? Aber danach ist immer gleich Schluss und man widmet sich wieder der westdeutsch geprägten Gesamtdebatte. Bisher war das zumindest so. Aktuell gibt ein paar Anzeichen, dass es dieses Mal vielleicht anders ist.

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taz: Dann sage ich jetzt mal als Westlerin: Viele ärgert maßlos, dass Ostdeutsche von Überfremdung reden, obwohl in ihrer Gegend kaum Migranten leben. Dass Ostdeutsche von sich behaupten, nicht rechtsextrem zu sein, aber einer Partei Vorschub leisten, die die Nazivergangenheit verharmlost und deren Führungspersonal zum Teil aus Faschisten besteht. Haben Sie für diesen Ärger auch Verständnis?

Platzeck: Das verstehe ich nicht nur, ich erfahre es jeden Tag, ich diskutiere ja viel mit westdeutschen Kollegen und Freunden. Da kommt dann auch gerne mal das Wort vom undankbaren Ossi. Vom unbelehrbaren Ossi. Oder, um mit Mathias Döpfner zu sprechen, immerhin der Vorstand der Axel Springer AG, des größten West-Medienkonzerns: „Die Ossis sind entweder Kommunisten oder Faschisten. Dazwischen tun sie es nicht. Eklig.“ So eine Debatte muss man fundierter und tiefergehend führen. Was sich in Ostdeutschland Bahn bricht, ist etwas, was die Summe der Ereignisse ausmacht und damit entschuldige ich gar nichts. Es gibt Dinge, die sind nicht entschuldbar. Aber sie haben Ursachen, trotzdem.

taz: Die vermeintlich Zukurzgekommenen rächen sich, indem sie den etablierten Parteien mit ihrem Wahlverhalten richtig eins auswischen. Die AfD wird das ja nicht richten.

Platzeck: Das wird vordergründig vielleicht auch nicht erwartet. Man will hier auch Zeichen setzen. Wir dürfen bei allen AfD Wählern aber nicht vergessen, dass 70 Prozent andere Wege suchen, die vielleicht auch nicht zufrieden sind mit manchen Dingen. Wenn ich die Debatten, an denen ich teilnehme, sozusagen als Feldversuch richtig zusammenfasse, dann wollen Menschen Sicherheit in ihrem Land und sie wollen einen handlungsfähigen Staat.

taz: Geht das präziser?

Platzeck: Holzschnittartig zusammengefasst haben wir zweimal bei großen Fragen keine entsprechenden Antworten und Lösungen gefunden. Nach 2015 in der Flüchtlingskrise, wo eine schon fast scheintote AfD komplett wieder auferstanden ist. Bei der Frage Krieg und Frieden in der Ukraine haben wir völlig zurecht gesagt, wir unterstützen die Ukraine mit Waffen. Kein Land in Europa hat das so umgesetzt wie Deutschland, aber das reicht den Menschen nicht, weil sie zum Beispiel Ängste haben vor einer Eskalation bis hin zu einem Atomkrieg. Auf diese beiden Fragen haben wir keine zufriedenstellenden Antworten gefunden, die den moralischen und sachlichen Anforderungen genügen. Das hat sich ein Ventil gesucht.

taz: AfD und BSW.

Platzeck: So ist das in einer Demokratie. Auch Sahra Wagenknecht lebt letztlich nur von diesen beiden Themen. Vielleicht muss man das auch noch mal klar sagen: Wenn zwei Parteien in relativ kurzer Zeit so reüssieren, dass sie in Thüringen fast die Hälfte der Wählerschaft begeistern, müssen sich etablierte Parteien fragen, was sie tun können, damit sich die Menschen mit ihren Empfindungen wieder mehr berücksichtigt fühlen.

taz: Was heißt das in Bezug auf weitere Waffenlieferungen an die Ukraine?

Platzeck: An der Kriegssituation hat sich relativ wenig geändert. Die Russen machen sogar weiter Geländegewinne in der Ostukraine. „Wollt ihr die nächsten zwei Jahre das einfach so weitermachen?“, fragen die Leute auf den Wahlveranstaltungen.

taz: Vergangene Woche hat Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) überraschend erklärt, die Zeit sei reif für Friedensverhandlungen.

Platzeck: Nicht nur in Anbetracht dessen, was in der Bevölkerung debattiert wird, halte ich das, genau wie die weitere Solidarität mit dem ukrainischen Volk, für absolut richtig. Egal wo Krieg ist, egal wer den Krieg führt – es ist fast eine heilige Pflicht immer wieder den Versuch zu machen, den Krieg durch Verhandlungen und diplomatische Bemühungen zu beenden.

taz: Sie sagen selbst, Putin gewinnt Land, die Panzer rollen. Glauben Sie, ein Frieden wäre möglich, ohne dass die Ukraine große territoriale Verluste erleidet und damit viele weitere Menschen auf der Flucht wären?

Platzeck: Das wäre derzeit alles Spekulation. Noch mal gesagt: Die Versuche müssen erstmal gemacht werden. Die Uraufgabe von Diplomatie ist, 100 Türklinken anzufassen und Lösungsansätze zu suchen. Diplomatie kennt viele Wege. Es gibt auch diplomatische Bemühungen, die kommen nicht an die Öffentlichkeit, und das ist auch gut so.

taz: Sie waren 10 Jahre Vorsitzender des deutsch-russischen Forums. Die Verständigung mit Russland in Form einer nachträglichen völkerrechtlichen Regelung, die Sie 2014 nach der Annexion der Krim durch Russland gefordert haben, hat Ihnen bei Kritikern den Ruf „Putin-Freund“ eingebracht.

Platzeck: Es reicht ja heute fast schon, das Wort Diplomatie in den Mund zu nehmen, um als Putin Freund bezeichnet zu werden. Das richtet Schaden in der Gesellschaft an.

taz: Das müssen Sie erklären.

Platzeck: Das Problem ist, dass Diskussionen über berechtigte Fragen und Ängste von Menschen sofort damit diskreditiert werden, man habe keine Solidarität mit dem ukrainischen Volk oder sei ein Freund Putins. Wir haben nur noch diese schematischen Diskussionen, die die Menschen aber spüren. Entweder ziehen sie sich dann aus solchen Debatten zurück oder sie zeigen an der Wahlurne ihre Meinung.

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