das wird: Ein politisches Leben, das verschwindet
Das Lübecker Willy-Brandt-Haus widmet sich der antifaschistischen Widerstandskämpferin Gertrud Meyer und fragt, welchen Anteil sie an der Geschichte Willy Brandts hatte
Von Frauke Hamann
Ein schmaler Gang in der Lübecker Altstadt verbindet Marlesgrube und Depenau. In dieser Hinterhof-Enge wird Gertrud Meyer 1914 als zehntes Kind einer Arbeiterfamilie geboren. Sie absolviert die Realschule mit Leichtigkeit, macht eine kaufmännische Lehre und arbeitet als Stenotypistin. Und sie will etwas tun gegen die nationalsozialistischen „Brüllgarden“, wie sie der SPD-Politiker und Widerstandskämpfer Julius Leber nannte. Als sich Meyer in der sozialistischen Jugendbewegung engagiert, trifft sie 1931 den fast gleichaltrigen Herbert Frahm. Aus Genossen werden Geliebte. Die Linkssozialistin Meyer wird Mitglied der verbotenen Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD) in der Hansestadt. Sie versteckt antifaschistische Flugblätter in den Schläuchen ihres Fahrrads – und wird im Mai 1933 mehrere Wochen inhaftiert. Die Arbeit ist sie los.
Vortrag „Lübeck – Oslo – New York. Auf den Spuren der NS-Widerstandskämpferin Gertrud Meyer“: heute, 19 Uhr, Willy-Brandt-Haus, Königstraße 21, Lübeck. Die Veranstaltung ist bereits ausgebucht
Gertrud Lenz’Biografie „Gertrud Meyer 1914–2002. Ein politisches Leben im Schatten Willy Brandts“ ist 2013 erschienen (Ferdinand Schöningh, 394 S., 56 Euro)
Im Juli folgt die 19-Jährige ihrem Freund ins Exil nach Norwegen, fortan nennt er sich Willy Brandt. Beide leben in Oslo zusammen. Sie wird für die politische Arbeit schnell unentbehrlich und leitet die SAPD-Stützpunkt, wenn Brandt unterwegs ist. Die gemeinsame Wohnung ist Anlaufstelle für geflohene Parteifreunde aus Deutschland. Parallel ist Meyer für den Psychoanalytiker Wilhelm Reich tätig.
Die Historikerin Gertrud Lenz, langjährige Archivarin bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, kennt Gertrud Meyer wie kaum jemand sonst: „Sie hatte Organisationstalent und enorme Schaffenskraft. Auch war sie von großer Unbedingtheit. Sie konnte aus proletarischer Geradlinigkeit inhaltlich Zoff anfangen. Diese Direktheit hat Willy Brandt sehr geschätzt. Aber ich sehe bei ihr dieses typische Frauenproblem – ein politisches Leben, das dann verschwindet.“ So kommt Gertrud Meyer in Willy Brandts Autobiografie „Links und frei. Mein Weg 1930–1959“ nicht vor. Einzig in einem Brief schreibt er: „Wir waren liiert. Auch waren wir in der politischen Arbeit eng verbunden.“
Kurz vor Kriegsausbruch 1939 geht Gertrud Meyer als enge Mitarbeiterin mit Wilhelm Reich nach New York und bereitet von dort Brandts Exil in den USA vor: „Als sie durch Dritte von Brandts Ehe mit Carola Thorkildsen erfährt, ist das ein Schock“, so Gertrud Lenz. Meyer bricht zunächst jeden Kontakt zu Brandt ab. Sie heiratet einen Norweger. Bis zu ihrem Tod lebt sie erneut in Oslo. Nach 1945 steht sie im Briefkontakt mit Brandt. Doch dieser lädt die einstige Gefährtin nicht ein, als er 1971 in Oslo den Friedensnobelpreis erhält. Ein Wiedersehen gibt es nicht.
Als Brandt politisch Karriere macht und schließlich Bundeskanzler wird, lehnt Gertrud Meyer alle Interviewwünsche ab. „Das war ihre Radikalität. Sie wollte ihm nie schaden, sondern wahrte ihm gegenüber absolute Solidarität. Für sie hatte das Politische immer oberste Priorität“, erläutert ihre Biografin. Denn Brandts Exilzeit wird massiv öffentlich angegriffen. „Diesen politischen Gegnern wollte sie keine Munition liefern.“ So bleibt Meyer zeitlebens die „Frau im Schatten“. Letztlich trägt ihre Lauterkeit und Diskretion zur eigenen Marginalisierung in der historischen Überlieferung bei. Auch dies kommt sicher im Lübecker Willy-Brandt-Haus zur Sprache.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen