Mehr Antisemitismus seit dem 7. Oktober: Lieber ohne Kippa

Die Anfeindungen, die jüdische Menschen erleben, nehmen immer weiter zu. Es wird Zeit, dass sich die schweigende Mehrheit hinter sie stellt.

Personen auf einer Demonstration halten Schilder hoch, die sich gegen Antisemitimus aussprechen

Demonstrierende auf einer pro-israelischen Demo setzten sich gegen Antisemitismus ein Foto: Annette Riedl/dpa

Es dürfe niemals sein, dass Bürgerinnen und Bürger jüdischen Glaubens in Deutschland in Angst und Schrecken leben müssten, dass Juden sich nicht mehr trauen könnten, mit Kippa aus dem Haus zu gehen oder an Hochschulen lieber nicht mehr sagten, dass sie jüdisch sind. So sprach Bundeskanzler Olaf Scholz am Sonntag zum Jahrestag des Hamas-Massakers vom 7. Oktober.

Scholz hat zweifellos recht, aber den Konjunktiv hätte er sich sparen können. Tatsache ist, dass ich keinen Juden kenne, der es noch wagt, mit Kippa das Haus zu verlassen, aber viele, die an der Uni lieber verschweigen, dass sie jüdisch sind. Tatsache ist auch, dass Deutschland Schauplatz der mächtigsten Welle antisemitischer Straftaten seit 1945 ist.

Ein Massaker an Zivilisten wird bejubelt. Eine Terrorgruppe wird zum Befreier erklärt, während ihre Opfer zu Tätern gemacht werden. Deutsche Juden werden in Haftung genommen für das, was eine Regierung am östlichen Mittelmeer unternimmt. Wenn das kein Israel-bezogener Judenhass ist, was bitte soll es sonst sein? Vielleicht Antiimperialismus für Vollidioten?

Es ist nicht so, als würden die Bundesregierung und der Staat dieser Entwicklung tatenlos zusehen. Sie drohen, sie strafen ab, sie schimpfen und sie appellieren. Der Erfolg solcher Interventionen ist gering. Doch der Einfluss des Staats auf das Denken seiner Bürger ist bekanntlich generell begrenzt.

Kein Zeichen der Empathie

Das Problem sind nicht alleine die Judenhasser, seien es nun arabische Migranten, deutsche Rechtsradikale oder irregeleitete angebliche Linke. Das Problem ist die schweigende Mehrheit. Von ihr ist kein Zeichen der Empathie für die Bedrohten zu hören. Für sie gehören Juden offenbar nicht zu den Menschen, deren Leben und Würde schützenswert ist.

Der Zulauf zu judenfreundlichen Demonstrationen blieb weitgehend auf die selbst Betroffenen beschränkt. Der deutsche Michel sitzt lieber hinter dem warmen Ofen und ängstigt sich vor dem Flächenbrand im Nahen Osten und steigenden Benzinpreisen. Es ist zum Verzweifeln. Nicht nur für Juden.

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Jahrgang 1957, ist Mitarbeiter der taz und Buchautor. Seine Themenschwerpunkte sind Zeitgeschichte und der Nahe Osten. Hillenbrand ist Autor mehrerer Bücher zur NS-Geschichte und Judenverfolgung. Zuletzt erschien von ihm: "Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach'sche Waisenhaus in Berlin", Hentrich & Hentrich 2024

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