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Redakteurin über Straßenmagazin für Kids„Kinder haben keine Vorbehalte“

Hamburgs Straßenmagazin „Hinz & Kunzt“ bekommt einen Ableger für Kinder. Ideengeberin Annette Woywode über Berührungsängste und Präventionsarbeit.

Platte machen: Die erste Ausgabe der Hinz&Kids erklärt, was das bedeutet Foto: Marcus Brandt/dpa
Friederike Gräff
Interview von Friederike Gräff

taz: Wie ist die Idee entstanden, ein Straßenmagazin für Kinder zu machen, Frau Woywode?

Annette Woywode: Ich habe zwei, drei Mal beobachtet, wie Kinder Obdachlose auf der Straße gesehen und gefragt haben: „Du, Mama, was macht denn der Mann da?“ Oder: „Wieso sieht die Frau so komisch aus?“ Da bekam ich mit, dass die Eltern nicht so richtig wussten, was sie antworten sollen oder verunsichert waren. Aber die Kinder sehen Obdachlosigkeit tagtäglich. Also hatten wir das Gefühl: Es wäre doch schön, wenn man den Kindern die Sache korrekt erklären könnte.

taz: Ist Hinz&Kids auch Präventionsarbeit gegen Ressentiments?

Woywode: Für das Magazin sind wir mit ehemals Obdachlosen in Schulklassen gegangen und haben die Kinder Interviews machen lassen. Das war zum Teil rührend. Wenn Fragen unbeantwortet bleiben oder die Kinder Unsicherheiten bemerken, werden sie oft selbst unsicher oder bekommen Ängste, die nicht sein müssten. Von daher ist es tatsächlich eine Art Präventionsarbeit, aber das ist mir eigentlich erst im Nachhinein klar geworden.

taz: Was war das Rührende bei den Gesprächen?

Woywode: Ich war zum Beispiel in einer Schulklasse mit einem Kollegen aus dem Vertrieb, der war früher selbst obdachlos. Die Kinder durften ihn interviewen und dabei kam zur Sprache, dass er als Jugendlicher obdachlos war. Die Kinder haben ihn gefragt: „Bist du sauer auf deine Eltern?“ und am Ende wollten sie ihn umarmen und abklatschen. Einem Hinz&Kunzt-Verkäufer, mit dem ich in einer anderen Klasse war, wollten sie am Ende ihre Brote schenken, und haben sie dann auf seine Unterarme gestapelt, weil er gar nicht so viele in der Hand halten konnte. Die Kinder haben nicht unbedingt von vornherein Vorbehalte. Die kommen erst mit der Zeit, weil die Gesellschaft Obdachlose häufig stigmatisiert.

taz: In dem Interview erzählt ein Kind, dass es von einem Obdachlosen beleidigt wurde und Angst hatte. Das fand ich sehr offen und zugleich herausfordernd für den, der darauf reagieren soll.

privat
Im Interview: Annette Woywode

57, ist Redakteurin und Chefin vom Dienst beim Hamburger Straßenmagazin. Sie hat das Format Hinz&Kids erfunden, das ab dem 17. 9. erscheint.

Woywode: Erwachsene würden das auch fragen, aber sie würden das anders formulieren, etwa: „Der steht ja die ganze Zeit unter Alkoholeinfluss und dann ist es kein Wunder, dass er die Kontrolle verliert.“ Und Kinder sagen dann eben: „Der ist unheimlich.“ Mein Kollege Marcel aus dem Vertrieb, der selber damit Erfahrung hat, konnte verstehen, was die Kinder meinen, aber er konnte eben auch sagen: „Es ist nicht jeder Obdachlose gleich und das ist genau wie bei allen anderen Menschen auch.“ Der eine hat eine Parfumwolke, vor der man am liebsten wegrennen möchte, und andere haben nicht die Möglichkeit, jeden Tag zu duschen und ihre Klamotten zu waschen und sehen dann entsprechend aus. Solche praktischen Fragen werden auch in den nächsten Ausgaben Thema sein: Der Duschbus oder der Umgang mit Kälte oder wo man überhaupt etwas zu essen bekommt, wenn man auf der Straße lebt.

taz: Heute, wo Print eher ein Auslaufmodell ist, wirkt es mutig, gleich ein zweites Printprodukt auf den Markt zu bringen.

Woywode: Das ist erst mal ein Sondermagazin. Fünf Ausgaben haben wir geplant, dann müssen wir gucken, ob wir weitermachen. Aber es ist unser Anspruch, Kinder im Grundschulalter noch nicht mit so viel Digitalem vollzublasen. Es ist einfach toll, wenn sie ganz klassisch etwas anfassen und Seiten durchblättern können. Deswegen haben wir auch extra ein bisschen dickeres Papier genommen, sodass sie auf den Rätselseiten wirklich malen und schreiben können.

taz: Das klingt so, als seien ökonomische Überlegungen das Letzte gewesen, was bei dem neuen Magazin im Spiel war.

Woywode: Bei uns ist es mit Digital grundsätzlich etwas anderes als bei anderen Printmedien. Wir gehen ja immer den Verkaufsweg über den Verkäufer oder die Verkäuferin, die auf der Straße stehen und darüber in Kontakt mit der Kundschaft kommen. Das ist bei einem Printprodukt im Moment noch wesentlich einfacher als mit einem digitalen Angebot. Letztlich liegt unser ökonomisches Interesse immer darin, dass die Hinz&Kunzt-Verkaufenden etwas verdienen.

taz: Ist nach fünf Ausgaben alles über den Alltag von Obdachlosen erzählt?

Woywode: In der ersten Ausgabe haben wir eine Reportage darüber, was es bedeutet, Platte zu machen. Da könnte man aber auch etwas über das Leben von Geflüchteten schreiben. Wichtig ist, dass es aus Perspektive von Kindern geschieht. Es gibt so viele Menschen auf der Welt, denen es nicht so gut geht, die kann man besuchen und zu Wort kommen lassen. Berührungsängste gibt es nicht nur gegenüber Obdachlosen.

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