Frank Castorf am Berliner Ensemble: Aus Rot wird Braun

Frank Castorf inszeniert Hans Falladas Roman „Kleiner Mann – was nun?“ am Berliner Ensemble – und zieht Parallelen von den Dreißigern zu heute.

Mehrere schreiende Menschen in rotes Licht getaucht

Kein Grund zur Panik, dank Drogen gegen Seelenschmerz: Das siebenköpfige Ensemble in „Kleiner Mann – was nun?“ am Berliner Ensemble Foto: Just Loomis

Wenn die Verhältnisse zu kompliziert werden, greift der Mensch gern zu Betäubungsmitteln. Die mildern den Seelenschmerz und öffnen Türen zu anderen Welten. So pilgerten denn Scharen von Wegbegleitenden Frank Castorfs am Wochenende ins Berliner Ensemble (BE), um sich dort ihre Dosis des Regisseurs abzuholen.

Der Bühnenapotheker aus Ostberlin lieferte auch, dank eines zu wilder Brillanz gepeitschten Ensembles. Sie schufen einen fünfeinhalbstündigen Parforceritt durch das Leben des Drogenkonsumenten Hans Fallada und dessen literarischen Welthit „Kleiner Mann – was nun?“. Weitere Feuerkraft gaben Einsprengsel von Dramatiker Heiner Müller und Lieder etwa aus dem Spanischen Bürgerkrieg.

Den Rahmen bildeten aber die Drogen. Aus einer siebenköpfigen Bande mit Glitzerklamotten heraustretend zerdehnte, zerdrückte und zerkaute zunächst Jonathan Kempf eine expressionistische Beichte Falladas über Suizidfantasien, Entfremdungsgefühle und Rauschzustände. Auch Entwöhnung ist Thema. Im schmissigen Chor schwören alle sieben Darstellenden mit dem Song „Nie wieder“ dem Kokaingebrauch ab.

Der Schwur hält nicht lange, natürlich nicht. Die Zeiten sind ja auch zum Flüchten. In seiner sprunghaften Lektüre von Falladas „Kleinem Mann“ pickt Castorf sich bald das schrille Pärchen Mutter Pinneberg (Artemis Chalkidou) und deren kleinkriminellen Partner Jachmann (Andreas Döhler) heraus. In einem Keller des BE, malerisch verrümpelt mit dicken Eisenrädern, setzen sich die zwei gegenseitig Spritzen.

An Glanztaten der alten Volksbühnen-Crew erinnert

Kreatur trifft auf Kreatur, balgt um einen Zipfel von Lebensglück, wissend, dass das Glück nur ephemer, das Betrogenwerden aber permanent ist. Beide werden im Großformat auf die Leinwand projiziert, eingefangen von je einem der beiden Live-Kamerateams, mit teils sich überkreuzenden Perspektiven. Dann steigen sie in eine hypermoderne Duschzelle, die mitten im Keller leuchtet. Mit dem Wasser tropft rote Flüssigkeit von oben auf die Körper.

Verletzung und Verletzlichkeit zugleich sind auf die Bühne gemalt, wie schon lange nicht mehr gesehen. Man fühlt sich mit diesem Ensemble an Glanztaten der alten Volksbühnen-Crew erinnert, und das nicht nur, weil Kathrin Angerer schräg vor einem im Zuschauer­raum sitzt.

Die lädierte Mutter steigt schließlich aus dem Keller nach oben, trifft dort auf Pauline Knof als Lämmchen, die biestig zur Schwiegermama und obersüß zum jungen Gatten Pinneberg ist. Als Lämmchens Mutter wiederum bringt Knof in einer der Szenen zuvor die geschundene Hellsichtigkeit einer Unter­schichts­frau zum Glühen. Im Hause Mörschel, dem Elternhaus Lämmchens, lässt Castorf das Hohelied proletarischen Widerstands singen.

Eine Rote Fahne wird hingebungsvoll geschwungen. Und nachdem Gabriel Schneider als Bruder Karl sein Gesicht in rotes Kunstblut getaucht hat, stimmen alle mit der Unterstützung der volltönenden Stimme des roten Barden Ernst Busch das Lied der Jarama-Front an – einem Durchhaltelied der Internationalen Brigaden gegen Franco-Faschisten und die deutsche Legion Condor.

Weltgeschichtliche Exkurse mit Heiner Müller

Ostdeutsche Herzen werden wenig später mit dem Lied „Der kleine Trompeter“ in sentimentale Schwingungen versetzt. Der Song beschrieb den Tod eines kommunistischen Musikers in Straßenkämpfen 1925 und fand weite Verbreitung in der DDR. Das Lied wurde in den 1930er Jahren auf Horst Wessel umgedichtet, einen Nazi, der von Kommunisten getötet wurde. Diese Pointe, wie mit wenigen Strichen aus roter Folklore braune gemacht werden kann, lässt Castorf allerdings aus.

Mit den kommunistischen Songs wie auch mit Einschüben von Müllers Texten akzentuiert Castorf die von Fallada nur angedeuteten politischen Kämpfe jener Zeit. Er verlängert das in die Gegenwart, lässt unter einem grün angeleuchteten roten Tuch vom Verrat durch Sozialdemokraten und Grüne raunen. Auswege kennt er allerdings keine. Das mächtige Räderwerk der Drehbühne, das tatsächlich aus sowjetischen Panzerteilen besteht, dreht sich am Ende als Decke eines Luftschutzkellers im Berlin des Jahres 1945.

Nach diesem dröhnenden weltgeschichtlichen Exkurs kommen die Drogen zurück. Auf einem zerknautschten roten Teppich, der mit feucht gewordenen Federn bedeckt ist, erzählt Knof als letzte Ehefrau Falladas, wie ein paar Schlafmittel zu viel aus ihrer Hand den Tod des Gatten herbeigeführt hätten. Ein stilles Ende eines großen Abends.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.