Kriminologe über Messerkriminalität: „Es gibt nicht die eine Maßnahme“

Messerkriminalität komme selten vor, aber sie steige, sagt der Kriminologe Martin Thüne. Schärfere Verbote sieht er kritisch. Nötig sei etwas anderes.

„Es häufen sich die Hinweise, dass es eine Zunahme von Messerangriffen gibt“ Foto: Panthermedia/imago

taz: Herr Thüne, seit Monaten wird über Messerkriminalität diskutiert. Muss ich mir Sorgen machen, auf der Straße mit einem Messer angegriffen zu werden?

Martin Thüne: Zum mutmaßlich islamistischen Attentat in Solingen will ich mich zum jetzigen Zeitpunkt explizit nicht äußern. Dafür ist vieles noch zu unklar. Grundsätzlich gilt: Vorsätzliche Taten, bei denen Täter und Opfer einander überhaupt nicht kennen, sind statistisch gesehen eine Ausnahme.

Gefährliche und schwere Körperverletzungen gehören generell zu den Straftaten, die verhältnismäßig selten begangen werden. Laut polizeilicher Kriminalstatistik sind davon knapp sechs Prozent Messerangriffe. 2023 waren das rund 9000 Fälle. Eine Studie aus 2021 kam zum Ergebnis, dass das Risiko gering ist, zufällig im öffentlichen Raum Opfer eines Messerangriffs durch einen unbekannten Täter zu werden.

taz: In welchem Umfeld werden die meisten Straftaten mit Messer begangen?

Thüne: Im sozialen Umfeld, etwa in Partnerschaften und Ex-Partnerschaften. Femizide sind hierbei ein besonderes Problem. Was bei Messerkriminalität generell eine Rolle spielt, ist die Verfügbarkeit. Das sehen wir auch am Beispiel von Schusswaffenkriminalität in den USA. Allerdings haben wir auch in Deutschland ein zunehmendes Problem mit illegalen Schusswaffen. Dieses Thema hätte ebenfalls deutlich mehr Aufmerksamkeit verdient, tritt aber weit hinter andere Debatten zurück.

ist Professor für Kriminologe und lehrt an mehreren Polizeihochschulen in Deutschland. Er kritisiert die Polizeiliche Kriminalstatistik seit längerem.

taz: Laut Polizeistatistik ist die Zahl der Messerangriffe 2023 im Vergleich zum Vorjahr um 5,6 Prozent gestiegen. Wie groß ist das Problem?

Thüne: Das ist schwer zu sagen. Die Polizei hat erst vor wenigen Jahren angefangen, das Messer als Tatmittel zu erfassen – während der Pandemie. Wegen der Lockdowns, aber auch weil öffentliche Veranstaltungen wie Stadtfeste für längere Zeit ausgefallen sind, ist dieser Zeitraum keine geeignete Vergleichsgröße zu einem Leben, wie wir es jetzt wieder führen. Das heißt, es ist logisch, dass 2020, 2021 und wohl auch noch 2022 die Zahlen niedriger waren. Allerdings gibt es durchaus Hinweise, dass die Zahlen auch im Vergleich mit den Vor-Corona-Jahren moderat erhöht sind.

taz: Welche denn?

Thüne: Vor ein paar Wochen hat die Berliner Charité erklärt, dass die Anzahl der schweren Stichverletzungen, die sie versorgt, im ersten Halbjahr 2024 das Niveau vom gesamten Vorjahr erreicht hat. Derartige Befunde sind aber ausschnitthaft. Es betrifft hier ein sehr großes Krankenhaus in der größten Stadt der Republik. Wir haben leider keine gute, überregionale Datenlage.

Trotzdem häufen sich die Hinweise, dass es eine Zunahme von Messerangriffen gibt. Allerdings nicht so exorbitant, wie es öffentlich vermittelt wird. Dies sagt nichts darüber aus, wie schwer das Leid eines jeden einzelnen Opfers dieser Taten wiegt. Bei vollendeten Messerangriffen bedeutet dies oft erhebliche Verletzungen, bis hin zum Tod.

taz: Sie haben die Polizeiliche Kriminalstatistik mehrfach kritisiert. Wieso?

Thüne: Kriminalstatistiken sind Hellstatistiken, das heißt, sie enthalten nur das, was den Polizeibehörden bekannt wurde. Gezählt wird der Tatverdacht, der sich später teilweise zerschlägt. Ein Anstieg von Zahlen im Hellfeld kann auch aus einer Verschiebung aus dem Dunkelfeld resultieren. Wenn Taten häufiger öffentlich thematisiert werden, kann das dazu führen, dass sie mehr angezeigt werden. Zudem wird die Erfassung von Straftaten alle paar Jahre verändert.

taz: Die Polizeistatistik bildet also nicht die Realität ab?

Thüne: Richtig. Die Polizeistatistik spiegelt einen Ausschnitt dessen wider, womit die Polizei sich beschäftigt hat. Bei Wohnungseinbrüchen ist es zum Beispiel so, dass circa. 90 Prozent aller Fälle angezeigt werden. Das hängt mit Versicherungsleistungen zusammen. Im Bereich bestimmter Sexualdelikte werden dagegen weit unter 10 Prozent der Taten angezeigt.

Ich habe große Zweifel, dass die polizeilichen Daten für sich genommen überhaupt für politische Debatten der breiten Öffentlichkeit geeignet sind. Die Kriminalitätsrealität müsste ganzheitlicher erfasst werden. Das sehen auch einige Leute in den Polizeien so, die sich mit diesem Thema befassen.

taz: Innenministerin Nancy Faeser hat vorgeschlagen, dass man im öffentlichen Raum nur noch Messer mit einer Klingenlänge von bis zu 6 Zentimeter bei sich tragen darf. Sie will Springmesser verbieten. Wie blicken Sie auf diese Verbote?

Thüne: Ambivalent. Ich kann verstehen, dass die Politik etwas gegen Messerkriminalität machen muss. Zugleich sind diese Maßnahmen kurzfristig und eher aktionistisch. Solche Verbote geben keine Antwort auf die eigentlich relevanten Fragen: Warum bewaffnen sich manche Menschen mit Messern und setzen sie ein? Warum tun andere genau das nicht?

taz: Für wie sinnvoll halten Sie Messerverbotszonen?

Thüne: Auch hier haben wir wenige Daten und widersprüchliche Befunde. Diese Zonen haben einen kurzfristigen, aber eher keinen nachhaltigen Einfluss auf das Kriminalitätsgeschehen. Speziell ideologisch motivierten Tätern dürfte es kaum darauf ankommen, was im Waffenrecht steht und ob man sich in einer Waffenverbotszone befindet.

taz: Ein Thema, das in der öffentlichen Debatte immer wieder mit Messerkriminalität in Verbindung gebracht wird, ist Migration. Welche Rolle spielt die Nationalität von Täter*innen?

Thüne: Auch hier haben wir wieder ein komplexes Bild, was an wenig beziehungsweise schlechten Daten liegt. Aktuelle Auswertungen zeigen: Nichtdeutsche Tatverdächtige sind im Verhältnis überrepräsentiert, zugleich begehen Täter mit deutschem Pass aber je nach Region zwischen circa 50 und 70 Prozent aller entsprechenden Taten. Deshalb erscheint es mir wenig sinnvoll, dass die Debatte auf die Herkunftsfrage verkürzt wird.

Ein Grund dürfte sein, über welche Taten medial und politisch diskutiert wird. Die Medienforschung zeigt, dass häufiger über Taten berichtet wird, bei den Menschen mit Zuwanderungsgeschichte die Täter sind und die im öffentlichen Raum stattfinden. Es wird seltener über Taten berichtet, die von Deutschen sowie in den eigenen vier Wänden begangen werden.

taz: Welche Faktoren sind entscheidend? Wer greift jemand anderen mit einem Messer an?

Thüne: Wenn Menschen Gewalt erfahren haben, dann ist es statistisch gesehen wahrscheinlicher, dass sie selbst gewalttätig werden. Aber auch das ist verkürzt, denn es gibt sehr viele unterschiedliche Tätertypen und relevante Faktoren. Grundsätzlich wäre es wichtig, in soziale Arbeit und breit angelegte Programme für Gewaltprävention zu investieren. Ich habe nicht kategorisch etwas gegen kurzfristige Maßnahmen, aber es darf nicht mit diesen aufhören.

taz: Mit welchen Präventionsmaßnahmen würden Sie ansetzen?

Thüne: Es gibt nicht die eine Maßnahme. Wir haben unterschiedliche Tatkategorien, vom geplanten Mord über häusliche Gewalt, von spontanen Gruppendynamiken im öffentlichen Raum über langfristige Suchtproblematiken und psychische Erkrankungen. Grundsätzlich muss man bei der Gewaltprävention ansetzen.

Mir ist kein wirksames Präventionsprogramm bekannt, was sich speziell auf Messerkriminalität beziehen würde. In der Jugendarbeit und sozialen Arbeit stehen insgesamt zu wenig Ressourcen zur Verfügung, um das Problem wirkungsvoll anzugehen. Da hilft mir dann auch die größte Waffenverbotszone wenig.

taz: Was wünschen Sie sich für die öffentliche Debatte über Messerkriminalität?

Thüne: Ich wünsche mir, dass wir das Problem ernst nehmen, aber auf eine andere Weise als momentan. Mit kurzfristigen Maßnahmen sorgen wir dafür, dass sich Probleme schleichend verschärfen, dass es noch mehr Vorbehalte gegenüber Jugendlichen, Zugewanderten und Flüchtlingen gibt. Ich würde mir einen nüchternen und faktenbasierten Umgang wünschen. Das bedeutet nicht, Probleme Dinge wegzureden, sondern zu erforschen: Was sind Maßnahmen, die wirklich etwas bringen.

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