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Zusammenleben nach dem Solinger AnschlagGemeinsam gegen Extremismus

Nach dem Anschlag spüre ich die Erwartung, dass ich mich als geflüchteter Syrer und Journalist äußern sollte. Dabei hat die Tat nichts mit mir zu tun.

Zusammenhalt nach dem Anschlag: Eine Notfallbegleiterin vor der Gedenkfeier am 1. September in Solingen Foto: dpa | Rolf Vennenbernd

A m 24. August wurden auf dem Solinger Stadtfest „Festival der Vielfalt“ drei Menschen getötet, mindestens acht wurden verletzt, davon vier lebensgefährlich. Der Mörder ist offenbar ein 26-jähriger Syrer aus Deir er-Zor. Er kam Ende 2022 nach Deutschland und stellte einen Asylantrag. Der sogenannte Islamische Staat (IS) hat die Verantwortung für den Anschlag übernommen.

Ich möchte eigentlich nicht in die Diskussionen über Asyl oder Abschiebungen einstimmen. Es wurde so viel dazu gesagt, geschrieben und gepostet, und wir haben als Gesellschaft so wenig gewonnen oder gelernt. Aber ich habe noch so viele offene Fragen.

War der Täter bereits in Syrien IS-Mitglied? In einem Interview sagen seine Familienmitglieder, er sei vor der Gewalt der Terrormiliz geflüchtet. Was geschah mit ihm in Europa? Hat er sich in Deutschland radikalisiert? Gab es Hinweise auf seine menschenfeindlichen Einstellungen? Wurde er von Terroristen des IS im Inland angeleitet?

Das muss alles geklärt werden. Im besten Fall, damit Po­li­ti­ke­r*in­nen dann darauf basierend Entscheidungen treffen können. So sehen es auch 60 Prozent der Befragten in einer Forsa-Umfrage zu dem Anschlag in Solingen. Sie befürworten, „in Ruhe und nach Vorliegen der genauen Ermittlungsergebnisse über mögliche Gesetzesänderungen und andere Maßnahmen zu entscheiden“.

Stehe ich immer unter Verdacht?

Ich habe das Gefühl, dass ich mich als Syrer, als syrischer Medienmacher, als ehemaliger Geflüchteter öffentlich positionieren sollte. Aber warum eigentlich? Was hat diese furchtbare Tat mit mir zu tun? Will ich mich rechtfertigen, um der Mehrheitsgesellschaft zu sagen: Guck mal, ich bin einer von den Guten?

Ich muss bei diesen Gedanken etwas weiter ausholen. Im Jahr 2017 habe ich an einer Weiterbildung für Medienschaffende teilgenommen, mit 14 weiteren Geflüchteten. Als der Terrorangriff auf das Ariana Grande-Konzert in Manchester passierte, legte uns die Kursleiterin nahe, dass wir uns öffentlich dagegen aussprechen, weil wir doch auch Geflüchtete und einige von uns Mus­li­m*in­nen seien.

Es folgte eine kleine Kampagne, an der ich teilnahm und durch die ich mich irgendwie erleichtert fühlte. Ich hatte mich distanziert, von einem Angreifer, von dem ich nichts wusste und mit dem ich nichts gemeinsam hatte. Aber ich hatte der Kursleiterin und ein paar hundert Personen auf Facebook gezeigt, dass ich gegen den Terror des Islamischen Staates war.

Erst Monate später begann ich, die Aktion zu hinterfragen. Sollte ich mich bei jedem Vorfall, bei dem ein (angeblicher) Muslim oder Geflüchteter eine Rolle spielt, äußern? Wie oft sollte ich das wiederholen? Wann wird mir geglaubt? Oder stehe ich wegen meiner Religion oder meiner Nationalität immer unter Verdacht?

Ich habe irgendwann entschieden: Niemand spricht in meinem Namen! Genau so, wie ich heute nicht für andere Sy­re­r*in­nen schreibe, sondern nur für mich persönlich. Ich bin vor Krieg und Tod geflüchtet. Ich bin als Muslim, als Mensch, als Geflüchteter gegen jede Gewalt. Ich kann und will das nicht ständig unter Beweis stellen müssen. Ist die Art und Weise wie ich hier in Hamburg ein neues Leben aufgebaut habe nicht Beweis genug?

Ich bin kein Experte für islamistischen Terror, oder dafür, warum sich Menschen radikalisieren (lassen). Ich weiß nur, dass der Anschlag in Solingen mich und alle Menschen in meinem Umfeld schockiert hat, unabhängig davon, ob sie einen Migrationshintergrund haben oder ob sie Mus­li­m*in­nen sind. Wer in dieser Gesellschaft zusammenleben will, muss sich jetzt gegen alle Formen von Radikalisierung und Extremismus stellen. Wir brauchen einander, und wir sollten uns gegenseitig schützen, denn ohne diesen Zusammenhalt können wir nicht in Frieden leben.

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2 Kommentare

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  • Die Begründung liefert der Essenzialismus, die Vorstellung, dass es „Etwas“, eine Essenz eben, gebe, die Individuen teilen, die zur selben Nation, „Rasse“, Religion, Kultur (was auch immer das sein soll), manchmal auch Klasse, gehören.



    Diese Vorstellung ist natürlich Quatsch, aber leider wirkmächtig. Sie bürdet uns Einzelnen eine Verantwortung auf für etwas, das wir als Individuen nicht zu vertreten haben. Inwiefern die genannten Gruppen als Ganzes Verantwortung übernehmen können, steht auf einem anderen Blatt.



    Ich kann z.B. als deutscher Staatsbürger mich dafür einsetzen, dass mein Staat (und das ist er für mich, nicht meine Nation oder mein Volk) Verantwortung übernimmt für vergangene Verbrechen und alles tut, damit sie nicht wieder geschehen. Das gleiche kann auch jedes Individuum innerhalb der jeweiligen religiösen Gruppe tun. Mein Staat versagt dabei meistens, viele religiöse Gruppen leider auch.

  • Ich kann diesen Standpunkt nachvollziehen.



    Ich heiße auch nicht Merz und ich heiße nicht Söder, ich heiße nicht Höcke und nicht Hitler.



    Aber ich bin Deutscher und die genannten Personen werden mit Deutschland in Verbindung gebracht.



    Fragt mich Jemand, als Deutschen, so muss ich, pars pro toto, praktisch den Diplomaten für mein Herkunftsland geben.



    So kann ich mich vielleicht von aktuellen politischen Strömungen distanzieren.



    Aber die Verbrechen des dritten Reichs kann ich nicht einfach abschütteln.



    Ich kann mich auch nicht in Verdun hinstellen und sagen:" ich war ja nicht dabei"!



    Als Teil einer Bevölkerung trägt man auch Verantwortung. Als DeutschEr hat man/frau zwei Weltkriege vor der Welt mit- zu verantworten.



    Wer das anders sieht ist schlicht verantwortungslos.



    Diese Verantwortung relativieren, kann nur, im individuellen Gespräch, das Gegenüber.



    Ein (Ur-) Enkel kann vielleicht sagen:"Du warst ja nicht dabei ", ich selbst kann mich dieser moralischen Schuld unseres Landes allerdings nicht entziehen.



    Ich glaube das ist, dem Dilemma des Autors, ähnlich. Das Gegenüber kann Fragen stellen und eine Antwort sollte gegeben werden.