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Neue Gedenktafel für „Euthanasie“-OpferEin Stück Würde

378 PatientInnen der einstigen Hildesheimer Heil- und Pflegeanstalt wurden im NS-Staat „Euthanasie“-Opfer. Eine Gedenktafel nennt erstmals ihre Namen.

„Aktion T4“: Per Bus wurden die Menschen in Tötungsanstalten deportiert Foto: Diakonie Neuendettelsau

Hamburg taz | Was fehlte, waren die Namen. Namen von psychisch Kranken und Psychiatrisierten, die in der NS-Zeit der „Euthanasie“ – der Tötung im Zuge der „Aktion T4“ – zum Opfer gefallen waren. Namen, die niemand mehr nannte. Die Menschen wurden so erneut Opfer. Opfer des Vergessens. So ist bis heute die Euthanasie-Beteiligung der damaligen „Alsterdorfer Anstalten“ in Hamburg (heute „Evangelische Stiftung Alsterdorf“) zwar nicht für die Institution insgesamt, aber doch für einzelne dort Beschäftigte ein Schandfleck, über den man lieber schweigt.

Und das, obwohl sich dort eine „Stolperschwelle“ des Künstlers Gunter Demnig und ein großes Mahnmal finden, mit Fotos und Biografien von TäterInnen und Opfern. Beides initiiert vom unermüdlichen Psychologen und Gedenk-Aktivisten Michael Wunder, der den Opfern ihre Würde wiedergeben will.

Aber das Erinnern bleibt unlieb; das spürte auch Jochen Arnold, Gründungsdirektor des Zentrums für Gottesdienst und Kirchenmusik im einstigen Hildesheimer Michaeliskloster. In dem 1010 erbauten, 1803 säkularisierten Gebäude sowie zwei weiteren Hildesheimer Klöstern residierte seit 1827 die Heil- und Pflegeanstalt, die bis zu 1.000 PatientInnen versorgte.

378 von ihnen wurden bis zum 24. 8. 1941 in den berüchtigten „Grauen Bussen“ in die Tötungsanstalten im hessischen Hadamar und in Brandenburg/Havel deportiert, wo sie durch Gas ermordet wurden. Das dem einstigen Hildesheimer Kloster heute benachbarte Gymnasium Andreanum und das Ameos-Klinikum – Nachfolgeklinik der Pflegeanstalt – haben bereits 2005 Mahnmale für die „Euthanasie“-Opfer aufgestellt.

Die Frage der Persönlichkeitsrechte

Aber es fehlten deren Namen, und das wollte Jochen Arnold ändern. Basierend auf der intensiven Recherche des Heimat-und Geschichtsvereins und des Hildesheimer Stadtarchivs trug er sie zusammen, alle 378. „Es wäre mir schon vor 20 Jahren ein Bedürfnis gewesen, die Namen der Ermordeten zu nennen, weil jeder Mensch eine persönliche Würde hat, die wesentlich mit seinem Namen verbunden ist“, sagt Arnold. Dennoch sei er etwas unsicher gewesen, ob eine Nennung so die Persönlichkeitsrechte der Opfer und ihrer Angehörigen verletzten würde. Gedenkorte in Prag oder Jerusalem und die Begegnung mit den HistorikerInnen hätten ihn dann ermutigt, „auf die Sache ganz neu zuzugehen“.

Am 4. August dieses Jahres hat Arnold nun eine Gedenktafel mit den Namen im Innenhof des einstigen Klostergebäudes enthüllt. Dazu wurden in Anwesenheit einiger Angehöriger die Namen verlesen. Die Biografien der Opfer wurden noch nicht recherchiert. Auch die Geburts- und Sterbedaten stehen da nicht. „Da wir nicht von allen das Sterbedatum wissen – das haben die Nazis so wenig dokumentiert wie die wahren Todesursachen –, wollten wir keine Ungleichbehandlung“, sagt Arnold.

Es ist eine der letzten Amtshandlungen des Theologen und Kirchenmusikers. Am 1. September wechselt er zur Evangelischen Kirche Westfalen. Aber es ist wohl seine nachhaltigste Initiative. Denn die Namen der Opfer rufen eine Epoche ins Bewusstsein, in der etliche ÄrztInnen die NS-Ideologie der Eugenik, auch der Zwangssterilisation zur „Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ feierten.

Wie viele außerdem der NS-Idee eines „Gnadentods“ für schwer kranke, nicht arbeitsfähige Menschen frönten, ist nicht bekannt. Wohl aber, dass etliche früh – und somit wohl aus Überzeugung – in die NSDAP eintraten. Auch der damalige Hildesheimer Anstaltsleiter Hermann Grimme wurde schon im Mai 1931 ­NSDAP-Mitglied, zwei Jahre vor der Machtübergabe.

Grimme ist eine ambivalente Figur. „Als er auf der Direktorenkonferenz im Februar 1940 erfuhr, dass die PatientInnen getötet werden sollten, erlitt er einen Nervenzusammenbruch“, berichtet der Psychiater Thorsten Sueße. Grimme habe mehrere Eingaben verfasst, unter anderem an die Gesellschaft deutscher Neurologen und Psychiater. Eine Antwort bekam er nicht.

Sueßes 1985 gemeinsam mit Heinrich Meyer edierte Dissertation über die „Tötung psychisch Kranker aus den niedersächsischen Heil- und Pflegeanstalten im Dritten Reich“ war die erste zu dem Thema. Erstmals studierte Sueße die bis dato unter Verschluss gehaltenen Akten der Hannoverschen NS-Prozesse von 1950, bei denen alle Verantwortlichen – GutachterInnen, ÄrztInnen, Verwaltung, PflegerInnen – freigesprochen wurden.

Dabei hatten viele aktiv zur „Euthanasie“ beigetragen: Hildesheims Anstaltsleiter Grimme etwa sagte: „Der Führer tut so etwas nicht“ und füllte besonders viele Patienten-Meldebögen aus. „Er redete sich ein, es könne nichts Schlimmes dahinterstecken“, sagt Sueße. Das Gegenteil trat ein: Bald erhielt Grimme die Aufforderung, 120 dieser Menschen zur „Verlegung“ – in Wahrheit zur Deportation in die Tötungsanstalt – auszuwählen. Grimme entzog sich. Er nahm Urlaub und überließ die Aufgabe seinem Stellvertreter August Jacobi.

Der tat wie ihm geheißen – wie so viele, die in Nachhinein bloß Befehle befolgt haben wollten. „Aber dieses Argument trägt nicht, sobald man vergleicht, wie andere Anstalten verfuhren“, betont Sueße. „Es gab durchaus Spielräume.“

Todbringende Meldebögen

Im niedersächsischen Ilten etwa habe sich die Belegschaft geweigert, die todbringenden Meldebögen auszufüllen. Das Regime schickte daraufhin eine Psy­chiaterkommission, um die PatientInnen zu begutachten. „Aber durch die Weigerung verzögerte sich alles, sodass es nicht mehr zu Deportationen aus Ilten kam“, sagt Sueße. Denn am 24. 8. 1941 stoppte das Regime nach Protesten aus Bevölkerung und Kirchen die – selbst nach NS-Recht illegale – „Aktion T4“ und tötete die PatientInnen fortan „unauffälliger“ durch Nahrungsentzug und Gift­injektionen.

Erheblichen Widerstand gegen die Krankenmorde leistete auch der Göttinger Anstaltsleiter Gottfried Ewald. „Er hatte eine Generalklausel erwirkt, der zufolge man Menschen aus ‚sonstigen zwingenden Gründen‘ zurückstellen konnte“, sagt Sueße. „Er hat das stark genutzt, hat Diagnosen zugunsten der PatientInnen gefälscht, sie auf dem Papier gesünder gemacht und Schwerstkranke vor der Kommission versteckt. Er bat Angehörige, ihre Verwandten rechtzeitig abzuholen.“ Sanktionen seitens des NS-Regimes erlitt Ewald nicht.

Räumung zugunsten einer SS-Führerschule

In Lüneburg dagegen war man besonders eifrig: Unter Anstaltsdirektor Max Bräuner und dem Kinderarzt Willi Baumert, dem „Herodes von Lüneburg“, gab es exzessive Kindstötungen. Zudem rückte das Regime bisweilen bedrückend nah: Das Michaeliskloster musste 1943 zugunsten einer SS-Führerschule namens „Haus Germanien“ geräumt werden. Dort wurden als „germanisch“ geltende Freiwillige der Waffen-SS aus Norwegen, Schweden, den Niederlanden und Belgien in NS-Ideologie geschult.

Der heutige Hildesheimer Institutsdirektor Arnold erwähnt auch das bei seinen Hausführungen. Diese Phase solle nicht verschwiegen werden. „Eine Informationstafel gibt es dazu noch nicht“, sagt er. Aber ein QR-Code, der auch auf weitere Gedenkorte in Hildesheim verweist, enthüllt weiterführende Informationen.

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