Berliner Straßen in der Zukunft: Reclaim the main streets

Eine Freiluft-Ausstellung zur Geschichte der Berliner Straßen blickt nach vorne – und wagt den Ausblick in eine menschen- statt autogerechte Stadt.

So könnte die Mollstraße einmal aussehen Foto: Graft

Berlin taz | Nein, mit dem musikalischen Moll hat die Mollstraße in Mitte nichts zu tun. Benannt ist die im Stil der Nachkriegsmoderne bebaute Straße nach Joseph Moll, Mitglied im Bund der Kommunisten, der bei den Kämpfen während des badisch-pfälzischen Aufstands 1849 gestorben war.

Dennoch atmet die Mollstraße jenes Melancholisch-Traurige, wie es den Moll-Tonleitern immer wieder nachgesagt wird. Etwas Unvollendetes haftet an ihr, vielleicht auch ein Schrei nach Liebe. Nach Leben. Nach Gerechtigkeit.

Die Mollstraße ist eine von zehn großen Straßen und Verkehrsschneisen, die in der Ausstellung „Immer modern. Berlin und seine Straßen“ einem Gedankenspiel unterzogen werden. Was, wenn sie nicht nur Autos gehörten, sondern auch Menschen? Wenn sie nicht nur der Fortbewegung dienten, sondern auch der Begegnung?

„Große Straßen für morgen“ heißt dieser Teil der Freiluft-Ausstellung, die seit Donnerstag auf dem Mittelstreifen des Boulevards Unter den Linden zu sehen ist. Um „Flächengerechtigkeit und Aufenthaltsqualität“ geht es Ulrich Brinkmann, der zehn Architekturbüros eingeladen hat, sich vorzustellen, wie Verkehrsschneisen nach dem Ende des Autozeitalters aussehen könnten. Das utopische Bild für die Mollstraße, gewissermaßen ihr Dur-Bild, stammt aus der Feder des Büros GRAFT-Architekten.

Seit 5. September ist auf dem Mittelstreifen des Boulevards Unter den Linden die Ausstellung „Immer modern. Berlin und seine Straßen“ zu sehen. Die Ausstellung geht bis zum 30. November.

Der Ausstellungsteil „Große Straßen von heute“ widmet sich der Geschichte der Berliner Straßen. Im Zukunftsteil schlagen 10 Architekturbüros Maßnahmen für ihren Rückbau vor.

Zur Ausstellung ist im Wasmuth-­Verlag ein dickleibiger Katalog erschienen.

Sich einmischen

Anlass für die Ausstellung ist ein Geburtstag. Der Architekten- und Ingenieurverein AIV feiert 2024 sein 200-jähriges Bestehen. „Der Verein hat sich schon immer in das Berliner Baugeschehen eingemischt“, sagt der AIV-Vorsitzende Tobias Nöfer bei der Pressevorstellung der Ausstellung am Donnerstag im Kronprinzenpalais. „Wir wollen nicht die Geschichte und uns selbst feiern, sondern Diskus­sionen auslösen.“

Um die Geschichte der Berliner Straßen geht es dennoch in der Ausstellung – und zwar im Teil „Große Straßen von heute“. Für jede der stadtbildprägenden Epochen der vergangenen 200 Jahre wird eine repräsentative Straße vorgestellt: Die Linden für Schinkels Berlin; die Swinemünder Straße für die Gründerzeitstadt; der Kurfürstendamm für die Erfindung des Neuen Westens; gleich mehrere Straßen für die ersten Autoplanungen der Weimarer Republik; die Westachse für die Nazi-Diktatur; Leninallee und Bundes­allee für die autogerechte Stadt in Zeiten der Teilung und die Schloßstraße in Steglitz für die Verkehrsberuhigung einer Einkaufsstraße nach der Wende.

„In den Großstädten sind es die Hauptstraßen, die das Bild der Stadt prägen“, betont der Kurator des Ausstellungsteils „Große Straßen von heute“, Harald Bodenschatz. „Auf der Hauptstraße wird sich auch entscheiden, ob die Mobilitätswende und die Klimawende erfolgreich sein wird. Dafür sei aber ein Paradigmenwechsel nötig. „Mit dem Schienenverkehr begann die Unterordnung der Stadtplanung unter die Verkehrsplanung“, so Bodenschatz. Die autorgerechte Stadt habe schließlich zu Straßen geführt, die – ohne Randbebauung – ausschließlich dem Auto dienten. Als Beispiel nannte er den Wolfensteindamm am Steglitzer Kreisel. Die Folgen seien Lärm, Luftverschmutzung und die Zerstückelung ganzer Quartiere.

Zwar habe der Konsens einer autogerechten Stadtplanung bereits Ende der 70er Jahre zu bröckeln begonnen. „Aber noch immer tut sich die Stadt schwer mit dem nachhaltigen und urbanen Umbau von Hauptstraßen.“

So sieht die Mollstraße heute aus Foto: Graft

An Lippenbekenntnissen fehlt es nicht: „Die autogerechte Stadt hat Schneisen geschlagen, die man heute behutsam zurückführen muss“, meint etwa Bausenator Christian Gaebler (SPD). „Wir müssen schneller vorankommen in der Umgestaltung der autogerechten Stadt zur menschengerechten Stadt.“

Gaebler vertrat bei der Ausstellungseröffnung den kurzfristig verhinderten Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Es wäre schon interessant gewesen zu hören, wie der sich zum Rückbau der großen Schneisen geäußert hätte, der nicht nur dem AIV ein Anliegen ist, sondern auch Berlins Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt.

Eines der Projekte, mit denen Kahlfeldt zu tun hat, ist die ehemalige Stadtautobahn A 104. Seit 2023 ist der Tunnel unter der Wohnanlage Schlangenbader Straße wegen Baufälligkeit gesperrt. Unter dem Motto „Stadt statt A 104“ fand letztes Jahr auch der Schinkel-Wettbewerb für junge Architekten des AIV statt. Ein zweites Projekt der Rückgewinnung eines von Autobahnen geprägten Stadtraums ist der „neue Stadteingang West“ am Dreieck Funkturm.

„An den Utopien lässt sich ahnen, wie wichtig Straßen für das Leben in der Stadt sind“, sagt der Baustadtrat von Berlin Mitte, Ephraim Gothe (SPD).

Ein wenig Moll klingt da schon mit. Denn mehr als schöne Bilder gibt es bislang nicht.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.